6672643-1961_06_11.jpg
Digital In Arbeit

Das Zeitalter der allzu reinen Vernunft

19451960198020002020

GESCHICHTE DER ABENDLÄNDISCHEN AUFKLÄRUNG. Von Fritz Valjavec. Herold-Verlag, Wien. 378 Seiten. Preis 159 S.

19451960198020002020

GESCHICHTE DER ABENDLÄNDISCHEN AUFKLÄRUNG. Von Fritz Valjavec. Herold-Verlag, Wien. 378 Seiten. Preis 159 S.

Werbung
Werbung
Werbung

Am 10. Februar 1960 ist Fritz Valjavec, Professor an der staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität München, Leiter des Südostinstitutsi isplöftzlich und unerwartet einem Herzinfarkt- erlegen. »Sein Tod'waf'ein 'schwerer Verlust' fürdib GeP Schichtswissenschaft. Sein großes Vorhaben, eine europäische Geistesgeschichte seit der Renaissance zu geben, hat er nicht vollenden dürfen. Unverwirklicht blieben zwei Bände, die das Barockzeitalter und die Romantik darstellen sollten. Nur ein Band, den er knapp vor seinem jähen Hinscheiden fertigstellte, ist ihm und uns vergönnt worden: die Geschichte der Aufklärung.

Diese meisterhafte Synthese läßt uns doppelt das allzu frühe Hinsterben des noch nicht Einundfünfzigjährigen beklagen. Sie hat einen ungemein vielfältigen Stoff nicht nur bewältigt, sondern auch ihn einer weit über die Fachkreise hinausgehenden Leserschaft riahegebracht. Die Gliederung des Buches ist vorbildlich klar. Es hebt an mit einer Einführung über Begriff und Eigenart der Aufklärung. Der Glaube an die Allmacht der menschlichen Vernunft, an ihre und nur an ihre Fähigkeit, die Welträtsel zu lösen, die Staatsordnung zu bestimmen, die Geschichte zu beurteilen, die beste Moral und endlich eine Kritik der einzig an ihrer Nützlichkeit zu messenden Religionen zu bieten, damit aber uns Erdenkindern den Weg zur Glückseligkeit zu weisen: das hebt der Verfasser als Hauptmerkmal der Aufklärung heraus. Daneben: Sie ist vordringlich eine Kultur des Bürgertums. Wird man dieser inhaltlichen Ab- grenzung ohne Einwand zustimmen, so möchten wir den zeitlichen Umfang, anders als Valjavec — der die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts mit einbegreift —, enger sehen, etwa von 1690 bis zur Französischen Revolution. Den Raum der europäischen Aufklärung hat Valjavec mit England, Frankreich, Deutschland, allenfalls Italien, Spanien und Portugal, dann - sehr dankenswert — Lateinamerika, treffend abgeschränkt, wenn wir uns chronologisch an de-n Rahmen halten, der die Hochblüte und das originelle Schaffen, die kaum bestreitbare Hegemonie der Aufklärung, umschließt. Sonst aber wären nicht nur die wiederum sehr schätzbaren Hinweise auf Skandinavien, auf Ungarn und sogar auf den Balkan nötig, sondern auch und in einiger Ausführlichkeit die auf Rußland, wo unter Katharina II. die „Philosophen" hoch im Kurs stehen und wo neben den illustren Gästen aus dem Okzident eine heimische Koryphäe ersten Ranges wirkte: Lomonosov. Ihn und aus Polen, wo die Aufklärung erst ab 1790, also in einem Moment triumphiert, da sie anderwärts durch den Kantianismus und bald durch die Romantik abgelöst wird, den Vorläufer Konarski und die überragenden Persönlichkeiten von Kollątaj, Staszic und Sniadecki hätten wir gerne beachtet gesehen.

Mit großer Befriedigung und mit nicht geringerem Beifall empfangen wir, bevor es an die Schilderung des eigentlichen Themas- geht,. eineJausgCzefchnete Ent- wicklungsgeschichte-jder Ideen, die hernach 'ztan System-der Aufklärung -'sich miteinander verbinden. Valjavec bezeigt dabei gleichermaßen eine stupende Belesenheit und die Gabe kritischer Sichtung einer Materie. Wir erhalten eine vorzügliche Übersicht des Kampfes der Kirchen und der Aufklärer wie des Eindringens der neuen Ideen in die abgehegten Bezirke der christlichen Bekenntnisse. Weniger Zustimmung gebührt dem Abschnitt über die jüdische Aufklärung; er widmet der sogenannten Haskala in Zwischeneuropa zu geringe Aufmerksamkeit. So wird weder ein so merkwürdiges Phänomen wie der Frankismus noch da-s Eindringen auch der westlichen Philosophie in den vom mittelalterlichen Talmudismus und Chassidismus beherrschten Geistesbezirk gewürdigt.

In jeder Hinsicht glänzend, schildert das dem Kapitel „Religion" folgende die Auswirkung der Lehren des Siede des Lumieres und des Enlightement auf Gesellschaft und Wirtschaft. Adam Smith beharrt hier im Mittelpunkt. Von gleichem Format sind des Verfassers Darlegungen über die anregende und aufstachelnde Rolle der Aufklärung auf den Gebieten der Sprache, der Literatur und der Kunst. Sehr mit Recht unterstreicht er, daß es sich hier vor allem um eine ordnende und aufhellende Funktion des subtilen Denkens und des verfeinerten Gefühls dreht, nicht aber um dämonisch schaffende Größe, wie vordem in Renaissance und Barock, nachher in der Romantik. Die Wissenschaft verdankt der Aufklärung einerseits die Befreiung von pedantischen Fesseln des Ausdrucks, die schon durch den Gebrauch der Nationalsprachen an Stelle des vordem verpflichtenden Lateins gegeben war, und die Ausdehnung auf neue oder bisher vernachlässigte Sektoren. Anderseits brachten das Streben nach Verständlichkeit und die hochmütig-naive Überzeugung, alles mit der Vernunft verstehen zu können, eine unleugbare Verflachung hervor, die sich vornehmlich in der Salonphilosophie breitmachte.

Sehr förderlich war, worauf Valjavec das Augenmerk richtet, der organisatorische Fortschritt, den die Aufklärungsperiode vollzieht. Gelehrte Gesellschaften, Sammelwerke, die Erweiterung des Leserkreises durch einen verbesserten Verlagsund Sortimentbuchhandel, did schöngeistigen Zeitschriften, die Einführung der Muttersprache als Vorlesungsidiom verbinden sich dazu, Kultur und Bildung in die Breite und auch schon in die Tiefe zu tragen. Zu all diesen Kapiteln, über deren Inhalt wir eben — und notwendigerweise — im Flug berichteten, haben wir nur den vollen Beifall anzumelden. Kaum, daß an kleinen Einzelheiten eine Korrektur denkbar wäre. So etwa, daß nicht im

gesamten Osten Europas die literarische Kontinuität unterbrochen war: Polen zum Beispiel hat seit Beginn des 16. Jahrhunderts unaufhörlich große dichterische, Ge- ctfalte aguweiseftßjj, iąjuįie,, Aufklärungszeit, aus der uns Valjavec die Erwähnung mindestens Krasickis und Trem- beckis schuldig bleibt. Bei den Enzyklopädien wären die des Abbe Moreri und die ungeschlachte, doch vom Geist der Epoche erfüllte deutsche Zedlers zu nennen gewesen.

Den Abschluß des Panoramas über eine gar mannigfaltige Geisteslandschaft bilden, nach einer eindringlichen Prüfung der Historiographie, in ihrer Art vollendete Zusammenfassungen des Rechts und der politischen Ausstrahlungen des aufgeklärten Gedankengutes. Ohne Zweifel lag ja die vordringlichste Bedeutung des Jahrhunderts der „Philosophen" — mit einem von ihnen geforderten und zum Teil verwirklichten Anführungszeichen — in der Durchdringung des Staates und der Gesellschaft mit Ideen, die den Köpfen der Denker entsprangen. Platons Traum von den Weisen, die zu herrschen hätten, ist damals weithin Tatsache geworden, nicht zuletzt deshalb, weil zwar die Philosophen keine Königsthrone einnahmen, wohl aber Könige und Kaiser darnach strebten, als Philosophen zu gelten und sogar zu handeln. Daß sich Valjavec diese Reminiszenz entgehen ließ! Und doch wäre es so reizvoll gewesen, nicht nur an Friedrich II., an Joseph II. und Katharina II., diese Gönner, Beschützer und Nachahmer der lichtbringenden Tugendlehrer und Vernunftpäpste, zu erinnern, sondern auch an Stanislaw Leszczynski, den Polenkönig und Herzog von Lothringen, der als seinen schönsten Titel den sich selbst zuerkannten eines „Philosophe bienfaisant“ ansahI

Aus der reichen geistigen Ernte und den eigenständigen Formulierungen Valjavecs über Aufklärung und Politik könnte man eine kleine Enzyklopädie der Vorgeschichte unserer gesellschaftlichen und staatlichen Gegenwart zusammenstellen. Gleich genußreich, nützlich und zum Überdenken herausfordernd sind die Schilderungen der Nebenströmungen, die mit der Aufklärung, manche freundschaftlich, koexistierten. Besondere Anerkennung verdient die Exkursion in die geheimnisvollen Gefilde der Geheimgesellschaften — Freimaurer, Rosenkreuzer, Martinisten — und in die zur großen Welt sich emporschwindelnde Unterwelt der St. Germain, Cagliostro und so vieler kleinerer Abenteurer, endlich in das echte Halbdunkel der Swedenborg und Meßmer. Hier fehlt uns allerdings der erwartete Bezug auf die Sociėtės de pensėe, deren kapitale Wichtigkeit für die Vorbereitung der Französischen Revolution uns Cochin enthüllt hat (durch dessen Werk die im Kem zutreffende Ansicht Valjavecs über das Verhältnis von Aufklärung und Revolution, S. 315, einigermaßen modifiziert worden wäre). Wie

Das Buch des wahrhaft universellen Gelehrten mündet in eine Nachschau, die nur zu gedrängt das Ende und die Fortdauer der Aufklärung im Szientismus des 19. Jahrhunderts und im Marxismus bespricht, des von ihr herkommenden, doch nicht restlos von ihr erfüllten Liberalismus nicht zu geschweigen. David F. Strauß,

Baur, Feuerbach, Renan und die von Valjavec unberücksichtigten Vulgärmaterialisten Darwin, Spencer, Haeckel, Oswald; Saint-Simon, Fourier, Comte, Owen, schließlich Marx und Engels, sind die authentischen Sprossen der radikalen Aufklärer. Sie haben deren Erbe wenn nicht zu Ende, so konsequent weitergedacht. Bürgerliche Freidenker, Sozialisten, Kommunisten verehren mit Fug die Leuchten des sich erleuchtet-erleuchtend glaubenden Jahrhunderts als Grands ancėtres. Was nicht hindert, daß auch die ganz anders Denkenden, heute aus der Perspektive von zwei Jahrhunderten Abstand, sehr vieles aus dem Vermächtnis der Nichtverwandten als unverlierbares, gemeinsames Gut der Menschheit achten und verwerten. Es sei als höchster Vorzug dieses außerordentlichen Werkes gerühmt, daß es taktvoll und kenntnisreich die richtige Mitte zu bewahren gewußt hat zwischen kritikloser Bewunderung oft überheblicher Kritiker alles ihnen Widerwärtigen oder (und) Unfaßbaren einerseits und geziemender Würdigung eines an sich gewaltigen Aufschwungs des Menschengeistes anderseits.

ÜHiversitätsprofessor

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung