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Die öffentliche Meinung in der Sowjetunion

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In der Gesellschaft zur Pflege der kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen zur Sowjetunion fand vor kurzem ein sehr interessanter Vortrag statt, der sich mit dem Pressewesen und der öffentlichen Meinung in der Sowjetunion beschäftigte. Eine Welt eigener Prägung wurde vor den Zuhörern sichtbar, eine in vielem uns fremdartige Welt, die genau so geschichtlich bedingt ist wie die Welt der westlichen Demokratien, von der sie ihre ganz andere Einstellung zu grundlegenden Dingen des öffentlichen und nationalen Daseins trennt. Jede Betrachtung der Sowjetpresse hat von der Tatsache auszugehen, daß die Nachrichtenvermittlung ein staatliches Monopol darstellt und daß die Herausgabe von Zeitungen durch Private strikte untersagt ist — mit dem Argument, daß eine Möglichkeit des privaten Besitzes Blätter herauszugeben gleichbedeutend wäre mit der Gefahr einer Verfälschung der öffentlichen Meinung durch die Besitzenden. Damit ist vor allem ein grundlegender Unterschied zur amerikanischen Presse gegeben, die in ihrem Aufbau gleichsam den Gegenpol der sowjetrussischen darstellt. /

Das politisch und geistig Interessante am Sowjetpressewesen ist indessen das Bestreben des Staates und der Partei, durch die Presse die Leser, das Volk zu erziehen. Vor allem die „Prawda“, das 1913 von Lenin gegründete Parteiorgan, zu dessen Redaktionsstab einst Stalin und Molotow gehörten, sieht ihre Aufgabe in der Erziehung der Lesermassen, die durch ein systematisches Zusammenwirken von Nachricht und Leitartikel erreicht werden soll. Aber auch die großen Organe „Trud“, das Blatt der Gewerkschaften, und die „Kömsomolskaja Prawda“, die Fachzeitung der Jugend von 18 bis 22 Jahren, haben daj Ziel, die Massen des Volkes, beziehungsweise der Jugend, in den allgemeinen Wirtschafts- und Arbeitsprozeß einzuschalten. Es ist mit Recht davon gesprochen worden, daß die Aufgabe der Sowjetpresse darin besteht, möglichst Kontakt zu den jeweils aktuellen Fragen zu haben und die Bevölkerung für die Erfüllung der staatlichen Pläne zu organisieren. Die Zeitung soll der kollektive Organisator ihrer Leser sein.

Ab Einparteienstaat, der prinzipiell keine sozialÄi und politischen Gegensätze kennt, sondern hödistens eine Meinungsbildung aus Schattierungen duldet, versucht die Sowjetunion den Lesern als freiwilligen Mitarbeitern der Presse eine Möglichkeit des Teilhabens an der Bildung der öffentlichen Meinung zu geben. Die russische Presse kultiviert daher wie keine andere das Recht des Lesers, Briefe an die Redaktionen zu richten, die beantwortet werden müssen; auch werden Briefe, die abgedruckt werden, honoriert. Andererseits müssen auch die Behörden Briefe der Redaktionen beantworten. So sollen die Zeitungen die Funktion ausfüllen, ein. starkes Mittel der Kontrolle der Geschäftsführung öffentlicher Funktionäre zu bilden. Auf diese Weise soll eine rege Mitarbeit der Massen am öffentlichen Leben ermöglicht werden, ohne daß die dogmatischen Voraussetzungen des kommunistischen Staates durch Diskussionen berührt würden. Eine Betrachtung der Sowjetpresse und ihrer Grundlagen läßt uns mithin ein Kernproblem der Sowjetunion

erkennen: die Kernfrage, ob und wie ein

Einparteienstaat, dessen feststehende weltanschauliche und politisch-soziale Grundlage der kommunistische Kollektivismus ist, doch auch die aktive Mitarbeit der Massen zu gewinnen vermag, ohne die sein demokratischer Charakter illusorisch wäre.

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