7117448-1996_21_01.jpg
Digital In Arbeit

Lauter kleine „Padanien”

19451960198020002020

Zerfallt Italien? Ein nur nach ökonomischen Kriterien konstruiertes Europa wirkt desintegrativ.

19451960198020002020

Zerfallt Italien? Ein nur nach ökonomischen Kriterien konstruiertes Europa wirkt desintegrativ.

Werbung
Werbung
Werbung

Mittlerweile nimmt die hohe Politik Italiens . den sezessionistischen Schreihals aus dem Norden, Umberto Bossi, der vor 350 Delegierten seines Parlaments von Padanien (der Po-Region) eine „Sonnenregierung” (Go-verno sole) ausrief, sehr ernst. Luciano Violante, beinharter Staatsanwalt, der gegen den Terrorismus kämpfte, neugewählter römischer Parlamentspräsident aus den Reihen der ex-kommunistischen PDS, hat kurz nach seiner Wahl dem nordischen Sezessionismus eine deutliche Absage erteilt: „Es gibt kein Recht auf Sezession” und „der Staat verfügt über alle Mittel, Gewaltanwendung inbegriffen, um seine Auflösung zu verhindern”. Allen ist klar, an wen er diese Worte richtete. Nach 125 Jahren dämmert das Ende des Einigungswerks Garibaldis herauf, Bossis Äußerungen werden nicht mehr als einem Politclown-Hirn entsprungen lächelnd abgetan. Violantes Thematisierung der nordischen Sezessionsbestrebungen auf dem römischen politischen Parkett führt möglicherweise in Rom zu einer Neueinschätzung dessen, was sich momentan noch verbal im reichen „Padanien” abspielt.

Während Zeitungskommentare Bossi noch immer mit einem bellenden Hund vergleichen und sich damit trösten, daß er nicht beißen wird, erkennt man - zu spät? -auf höchster politischer Ebene die Notwendigkeit einer tiefgreifenden föderalistischen Reform mit weitgehender Dezentralisierung Italiens.

Nach seiner Angelobung als neuer Regierungschef (er steht der 55. italienischen Nachkriegsregierung vor) war Romano Prodi mit einem Offenen Brief der drei Präsidenten der Regionalräte, Formigoni, Ghigo und Galan, konfrontiert, in dem diese ihn auf die drängende Lösung einer föderalistischen Refom, auf die der Norden nicht mehr länger warten könne, aufmerksam machten. Prodi, der sich deutlich für die ■ Einheit Italiens aussprach, wird neben der Bekämpfung der Mafia und neben der Sanierung des Haushalts (gibt's bei einer Staatsverschuldung von 124 Prozent des Bruttosozialprodukts noch etwas daneben?) noch zusätzlich die Staats- und Verfassungsreform (mit der Dezentralisierung des Steuersystems) angehen müssen, um eine Abspaltung Norditaliens abwehren zu können.

Das Problem dabei ist die Zeitfrage. Seit den Anfängen der Lega Nord 1989, die auf der Welle eines wirtschaftlich begründeten „Nationalismus” schwimmt, ist die Sehnsucht nach einer starken Führerschaft, nach provinzieller Geborgenheit in einem vom Krebsgeschwür mafioser Korruption zerfressenen Staat im Norden immer stärker geworden. Die Turiner Agnelli-Stif-tung hat 1992 mit Wirtschafts-daten den nordischen Sezessionstrieb untermauert (und auch viele Nicht-Lega-Wähler wünschen mittlerweile schon die Sezession): Das Bruttosozialprodukt des Südens ist 40 Prozent unter der Marke des Nordens, die Arbeitslosigkeit in Süditalien ist mit 19 Prozent dreimal so hoch wie in „Padanien” (übrigens ein Begriff, der in dieser Studie erstmals verwendet wird). Das Bruttosozialprodukt Gesamtitaliens (58,1 Millionen Einwohner) macht gegenwärtig 17.099 US-Dollar pro Kopf aus. Aufgeschlüsselt auf „Padanien” und Rest-Italien lauten die Daten: Der Norden mit 25,9 Millionen Einwohnern erwirtschaftet ein pro Kopf BSP von 20.573, der Süden (32, 2 Millionen Einwohner) ein pro Kopf BSP von 14.308 US-Dollar. Die Steuerleistung des Nordens für den Süden macht nach der Agnelli-Studie viel mehr aus, als Rom an Mitteln für den Norden bereitstellt. Dazu gesellt sich Kritik an vielen wirtschaftspolitisch sinnlosen Maßnahmen im Süden, wo Geld einfach versickert.

Zerfällt also Italien aus wirtschaftlichen Gründen? Erfahren damit auch die hehren Ziele der europäischen Integration einen gewaltigen Rückschlag? Die Lega Nord wurde besonders während der Zeit der „tangentopoli”, der Bestechungsgelderaffäre, groß. Da wuchs das moralische Ansehen. Ja, mit moralischem Anspruch machte Bossi Politik und gewann.

Jetzt ist, unterm Strich, nur mehr „Bassismus” (vatikanische Stellen haben diesen Be-giff in bezug auf die Lega Nord verwendet) und „Sezessionismus” geblieben. Die „Untermenschen”, das sind die Mitbürger des Mezzogiorno. An die Stelle eines föderalistischen oder konföderalistischen Konzepts, das Westeuropa heute befürwortet (Regionalismus und Föderalismus auf der Basis von Solidarität und Subsidiarität sind ja Grundbausteine des neuen Europa), trat nackter Wirtschaftsegoismus: Wozu sollen die Beichen im Norden für die Armen im Süden zahlen? Bossi hat vom Desintegrationstrend in Osteuropa offensichtlich gelernt, sogar in seine Polit-Sprache ist das eingeflossen, als er von einer Spaltung Italiens nach „tschechoslowakischem Vorbild” sprach.

In Osteuropa begründeten viele Politiker, vornehmlich christlicher Provenienz, die — zunächst von vielen aus wirtschaftlichen Gründen gesuchte - Trennung von der kommunistischen Zentrale mit dem christlichen Personalismus: einmal über sich selbst Herr sein und über sich selbst bestimmen zu können, auch darüber, ob man sich in ein größeres (EU)-Europa integrieren will. Die wirtschaftliche Ernüchterung folgte bald, als man - beispielsweise in Slowenien oder in der Slowakei -erkannte, daß man Absatzmärkte verloren hatte. Da und dort - beispielsweise in Weißrußland,oder in Moldawien - erinnern sich hungrige Mägen an die volleren Töpfe zu Sowjetzeiten.

Solidarität kann man nicht verordnen. Aber man kann dazu erziehen. Völlig unvorstellbar, daß ein vereintes Europa gelingen kann, in dem nur die

Erfüllung der Maastrichter Konvergenzkriterien zählt. Was Wunder, wenn Populisten - und es gibt sie nicht nur in Norditalien - überall wieder neue Mauern aufziehen. „Padanien” würde die Maastrichtkriterien wohl erfüllen. Aber Europa sollte doch nicht aus lauter kleinen padanischen Egoisten bestehen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung