Selbstzerstörerischer Fremdenhass

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Wir wissen nicht, wie die großen Finanzierungslücken für die britischen Universitäten ausgeglichen werden sollen, wenn die europäischen Mittel fehlen.

Was fehlte, war eine intellektuelle kritische Infragestellung von medienbedingten Diskursen, die eine Stimmung erzeugten, die den Brexit überhaupt ermöglicht hatte.

Der Brexit ist für den in London lehrenden Literaturwissenschaftler Rüdiger Görner eine katastrophale Entscheidung. In seinem vor Kurzem publizierten Buch "Brexismus oder Verortungsversuche im Dazwischen" hat er die Genese und die Auswirkungen auf politischem, ökonomischem, kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet beschrieben.

DIE FURCHE: Sie bezeichnen das Referendum des Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union am 23. Juni 2016 als "Begehung eines politischen Scherbenhaufens", der eine selbstverschuldete Unmündigkeit mit sich bringen würde. Was veranlasst Sie zu dieser vernichtenden Beurteilung?

Rüdiger Görner: Das ist ein deftiger Ausdruck, weil die Angelegenheit deftig ist, weil die Problematik, die Großbritannien vom Zaun gebrochen hat, in einer Art und Weise von Unverantwortlichkeit zeugt, dass man kaum einen anderen Begriff finden kann, der beschreibt, wie man ein funktionierendes, partnerschaftliches Sich-Aufeinander-Abstimmen zwischen London und Brüssel über Bord werfen kann, ohne im Entferntesten ein Gegenmodell gehabt zu haben.

DIE FURCHE: Sie sprechen davon, dass die Brexit-Gegner einen kalkulierten Verrat an der Europäischen Idee begangen haben. Ist diese Einschätzung nicht etwas überzogen?

Görner: Das ist gewiss nicht übertrieben, weil meine Bemerkung das ausdrückt, was Beobachter der britischen Szene über Jahre befürchtet haben, nämlich dass das Anti- Europäische mehr und mehr zu einem ideologischen Aspekt der Politik wird. Aber das Aufwachen war deswegen so dramatisch, weil selbst die größten Pessimisten kaum vermutet hatten, dass es zu einer Brexit-Entscheidung des Volkes beim Referendum kommen würde. Denn nichts illustriert die Situation genauer als die Tatsache, dass die Wortführer des Brexits nach dem Tag des Referendums mit ihrem sogenannten Erfolg gar nicht fertig wurden und nicht wussten, wie sie das kommentieren sollten. Nigel Farage und Boris Johnson verschwanden ja zunächst einmal in der Versenkung; Farage blieb dort und Johnson stieg dann als Phönix aus der Asche auf und wurde Außenminister.

DIE FURCHE: Wie haben sich die Intellektuellen anlässlich des Referendums verhalten?

Görner: Es gab ja auch während der Brexit-Kampagne eine für britische Verhältnisse erstaunliche Mobilisierung von Intellektuellen und Kunstschaffenden wie Julian Barnes bis zu Jeanette Winterson und George Steiner, die aber nicht dazu beitragen konnte, ein proeuropäisches Bewusstsein, ein Anti-Brexit-Bewusstsein auszubilden. Was fehlte, war die Rückkoppelung, eine intellektuelle kritische Infragestellung von medienbedingten Diskursen, die eine Stimmung erzeugten, die den Brexit überhaupt ermöglicht hatte, und ein bejahendes Verhalten zu stärken, was die Errungenschaften der EU betrifft. Diese Rückkoppelung hat gefehlt. Anzumerken ist, dass die lang andauernde Euroskepsis, die es in Großbritannien spätestens seit dem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft gegeben hat - diese schleichende oder auch offene Euroskepsis, die wir beobachten -bereits 1980 von Lord Dahrendorf analysiert wurde. Aber niemand konnte sich vorstellen, dass dies zu dieser Konsequenz führen würde.

DIE FURCHE: Gibt es auch heute noch Widerstand in politischen Kreisen gegen den Brexit?

Görner: Es gibt durchaus Versuche, dagegen zu protestieren. Es gab Demonstrationen in London, bei denen ich auch dabei war, und ich konnte sehen, dass man wieder einmal Europafahnen sah, die ein Teil dieses Demonstrationszuges waren. Auf der anderen Seite fällt auf, dass der entscheidende qualitative Widerstand gegen den Brexit vom House of Lords kommt. Das heißt, gerade die nicht gewählten Abgeordneten aus dem House of Lords präsentieren interessante Gegenentwürfen zu dem, was der Brexit bisher gebracht hat. Sie versuchen, in konstruktiver Weise wenigstens Elementares zu retten, wozu gehört, dass man die Regierung verpflichten sollte, zumindest die Mitgliedschaft nach dem Brexit in einer Zollunion zu wahren.

DIE FURCHE: Gibt es auch einen zivilen Widerstand, zum Beispiel gegen den Versuch der Premierministerin Theresa May, die gesamte Brexit-Diskussion am Parlament vorbei zu bugsieren?

Görner: Dazu gehört die immense Zivilcourage einer Einzelperson, die für mich diejenige ist, die den zivilen Widerstand im klassischen Sinn gegen die verhängnisvolle Politik der Regierung vertritt. Und das ist Gina Miller, die eine namhafte Firma für Vermögensberatung in London leitet. Gina Miller hat es gewagt, als Einzelperson die Höchstgerichte in London anzurufen, um sich dieses Problems anzunehmen. Ihr ist es zu verdanken, dass eben jetzt das House of Commons konsultiert werden muss, wenn es um den Brexit geht.

DIE FURCHE: Wie sehen die Auswirkungen des Brexits auf universitärem Gebiet aus?

Görner: Gegenwärtig ist es noch zu früh, wirklich sagen zu können, wie die konkreten Konsequenzen aussehen könnten. Es gab ein großes Forum von Vertretern deutschsprachiger und britischer Universitäten vor einigen Wochen in London, wo wir uns mit diesen Problemen auseinandergesetzt haben. So wissen wir noch immer nicht, ob zum Beispiel das Erasmus-Programm aufrecht zu erhalten ist, wenn sich Großbritannien einseitig verabschiedet. Wir wissen nicht, wie die großen Finanzierungslücken für die britischen Universitäten ausgeglichen werden sollen, wenn die europäischen Mittel fehlen. Diese Beträge bewegen sich bei manchen Universitäten bei bis zu 17 Prozent der Budgets. Wir wissen nicht, wie wir die bestehenden Forschungsprogramme mit Partneruniversitäten fortschreiben können, wenn unklar ist, wie sich die politischen Strukturen entwickeln werden.

DIE FURCHE: Wie sehen Sie die künftige Situation der Universitäten?

Görner: Wir können nur eines vermuten: Dass die Universitäten ihre eigenen Kooperationen gegen die Politik der Regierung anstreben werden, dass sie so handeln, als sei nichts gewesen. Das ist durchaus eine britische Haltung, dass man auf pragmatische Weise versucht, eine Schadensbegrenzung vorzunehmen und zumindest bestehende Vereinbarungen einhält. Wie das aber konkret aussehen soll, muss sich erst erweisen, da ja die Unterstützung der Regierung fehlt.

DIE FURCHE: Wie hat sich der Brexit auf den ökonomischen und politischen Bereich ausgewirkt?

Görner: Das Dienstleistungsgewerbe wird mit großer Sicherheit durch die Abwanderung von EU-Bürgern Schaden erleiden; speziell im Bereich der Gastronomie und der Service-Industrie insgesamt. Diese Tendenz wird noch durch eine spürbare Abneigung gegen die Fremden verstärkt, die sich besonders in der Provinz ausbreitet. Wobei sich eine ganz merkwürdige Differenzierung ergibt. Der Fremde ist plötzlich viel mehr der EU-Bürger als der Brite pakistanischer Herkunft. Der Fremde ist inzwischen derjenige, der als EU-Bürger vermeintlich den Einheimischen den Arbeitsplatz wegnimmt. Dabei haben wir gar nicht genügend gut ausgebildete Engländer, um die absehbare Abwanderung auszugleichen. Das heißt, die britische Regierung hat einen spektakulären Fehler gemacht, indem sie nicht von vorneherein eine Sicherheitserklärung abgegeben hat, die Rechte der EU-Bürger, die in Großbritannien leben und dort arbeiten, zu sichern und deren Beitrag zum Bruttonationalprodukt entsprechen zu würdigen. Dieser Beitrag ist zum jetzigen Zeitpunkt gar nicht bezifferbar. Wir wissen nur, dass die rund drei Millionen EU-Bürger, die in London leben, einen enormen Wirtschaftsfaktor darstellen. Gar nicht zu reden von der kulturellen Bereicherung, zu der sie beitragen. Das zeigt, wie selbstzerstörerisch Fremdenhass sein kann.

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