DIE SCHRULLIGEN Vettern von der Insel

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Wir brachten ihnen die Renaissance, sie gaben uns die Beatles: Großbritannien ist ein Teil Europas - auch wenn das derzeit viele Briten nicht wahrhaben wollen.

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Wir brachten ihnen die Renaissance, sie gaben uns die Beatles: Großbritannien ist ein Teil Europas - auch wenn das derzeit viele Briten nicht wahrhaben wollen.

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Geographisch trennen lediglich 34 Kilometer die Kreidefelsen von Dover vom französischen Festland. Dennoch liegen aus der Sicht vieler Briten Welten zwischen Großbritannien und Europa. Wie auch immer es ausgehen wird: Die Diskussionen im Vorfeld des Referendums über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union haben deutlich gemacht, dass sich viele Briten nicht zu Europa zugehörig fühlen - und gemeint ist damit nicht Europa als Synonym für die EU, sondern Europa als Idee einer gemeinsamen kulturellen und ideellen Einheit.

"Die Briten betrachten sich weder kulturell noch geographisch als Bestandteil Europas", sagt etwa die Anglistin Ulla Ratheiser, Professorin an der Universität Innsbruck. Wenn Briten von "Europe" oder vom "continent" sprechen, meinen sie dezidiert nicht ihr Staatsgebiet - als ob die britischen Inseln nicht Teil des europäischen Subkontinents wären. Der große britische Staatsmann Winston Churchill hat dieses britische "Mia san mia" folgendermaßen auf den Punkt gebracht: "Wenn Großbritannien sich zwischen Europa und dem offenen Meer entscheiden müsste, würde es immer das offene Meer wählen."

Ganz im Gegensatz dazu ist Großbritannien aus einer zentraleuropäischen Perspektive selbstverständlich ein Teil Europas. Das liegt unter anderem an dem massiven Einfluss der britischen Kultur auf die anderen europäischen Länder. Sogar im deutschsprachigen Raum, wo man auf niemand Geringeren als Johann Wolfgang von Goethe verweisen kann, wird William Shakespeare als der größte Dramatiker der Literaturgeschichte anerkannt. Die schottische Aufklärung, etwa in Gestalt des Philosophen David Hume, hat mächtige Spuren in der europäischen Geistesgeschichte hinterlassen.

Mit Besen durch die Jugendzimmer

Eine ganze Reihe britischer Schriftsteller hat Werke geschaffen, deren Bedeutung weit über die Literaturgeschichte hinausgeht und die untrennbar mit der europäischen Kultur verbunden sind: George Orwell (mit der Figur des "Big Brother" aus seinem Roman "1984"), J. R. R. Tolkien ("Der Herr der Ringe"), Mary Shelley ("Frankenstein") oder der in Irland geborene, aber in London lebende Bram Stoker ("Dracula"). Der jüngste kulturelle Export dieser Art ist die "Harry Potter"-Reihe von Joanne K. Rowling, deren Held auf seinem Hexenbesen durch die Jugendzimmer ganz Europas gefegt ist.

Vor allem in der Populär- und Alltagskultur ist der Einfluss aus Großbritannien enorm. Als die "Beatles" ab 1964 die europäischen Hitparaden und Tanzschuppen eroberten, ging es dabei nicht nur um einen neuen Sound, sondern um ein ganzes Lebensgefühl. Mit der Musik der vier Liverpooler Musiker kamen auch die langen Haare, der Minirock, der Protest, kurzum: die Rebellion gegenüber der älteren Generation, die sich nicht nur - wie ein paar Jahre früher beim Rock'n'Roll - auf Äußerlichkeiten beschränkte, sondern weit ins Politische hinein reichte. Letztlich ist das neue, von den britischen Inseln stammende Lebensgefühl für die Studentenrevolte des Jahres 1968 in Frankreich und Deutschland mitverantwortlich.

Aber bereits vor der "British Invasion", wie der Eroberungsfeldzug britischer Musik vom Anfang der 1960er-Jahre in den USA genannt wird, war (vermeintlich) britische Lebensart ein fixer Bestandteil des kollektiven Bewusstseins. Das Bild des versnobten, schrulligen Briten gehört zum fixen Inventar europäischer Typen. In den zahllosen Filmen der Edgar-Wallace-Reihe wimmelt es nur so von Briten, die ihre jeweiligen Spleens in mehr oder weniger mörderischer Gestalt ausleben. Noch älter ist die in den Romanen von Karl May und deren Verfilmungen auftauchende Figur des exzentrischen Lord Castlepool, der sich selbst von Indianern am Kriegspfad nicht vom Sammeln von Schmetterlingen abhalten lässt.

Auch nach der ersten großen Welle in den Sechzigerjahren hörte der Kulturimport nicht auf: Auf dem Gebiet der Populärmusik kamen auch Heavy Metal, Punk oder das Phänomen der Boygroup aus Großbritannien auf den Kontinent.

Britischer Humor in bester Manier

Auch der typisch britische Humor, schwarz gefärbt und strotzend vor Selbstironie, hat sich, nicht zuletzt dank Pionieren wie der Komikertruppe Monty Python, wie ein Lauffeuer verbreitet. Wenn es denn ein Zeitalter der Ironie gab oder gibt - angeblich befinden wir uns ja schon in der Ära der Postironie - dann darf der Anteil des britischen Humors an dessen Entstehung nicht unterschätzt werden.

Sollten die Briten nun tatsächlich für den Brexit stimmen: Was hätte dies für kulturelle Auswirkungen? Auf den laufenden Kulturtransfer von Großbritannien nach Kontinentaleuropa wahrscheinlich keine. Populärkultur findet immer einen Weg. Die "Beatles" und der damit verbundene Geist sind in den Sechzigerjahren über alle Grenzen bis in die verborgensten Winkel Europas vorgedrungen und haben sogar den Eisernen Vorhang überwunden.

Auch für die Hochkultur wäre ein Austritt Großbritanniens aus der EU wohl kein Problem. Der Kunstbetrieb ist ohnehin international. Bedeutende britische Gegenwartskünstler wie Damien Hirst würden nach wie vor in der EU ausgestellt und britische Museen und Galerien würden nach wie vor die Werke kontinentaleuropäischer Künstler zeigen.

Es lassen sich zahlreiche Gründe finden, wie es zu dem antieuropäischen Selbstverständnis vieler Briten gekommen ist: Da wäre die isolierte Lage, die auch dafür verantwortlich ist, dass die letzte erfolgreiche Invasion der Insel (durch die Normannen) fast ein Jahrtausend zurückliegt. Zu nennen ist auch die Vergangenheit als Kolonialmacht: Großbritannien beherrschte einst ein Weltreich und fühlt sich daher den ehemaligen Kolonien - von den USA bis zu den Commonwealth-Ländern - näher als seinen europäischen Nachbarn.

Dabei vergessen die Briten allerdings allzu gerne den kulturellen Einfluss Europas, der größer ist, als es viele wahrhaben wollen. Das Elisabethanische Zeitalter, das goldene Zeitalter der englischen Geschichte, wurde von der Renaissance geprägt. Provokant ausgedrückt: Ohne der von Italien ausgehenden Wiederentdeckung der antiken Kultur, die ihre Blüte im südlichen Teil Europas von Gibraltar bis zum Bosporus entfaltete, wäre Shakespeare gar nicht denkbar. Über ein Jahrhundert später prägte der deutsche Komponist Georg Friedrich Händel das kulturelle Leben Großbritanniens, indem er in London italienische Opern aufführte.

Europäisches "Rule Britannia!"

Auch die inoffizielle Landeshymne "Rule, Britannia!", die von den Brexit-Befürwortern in diesen Tagen gerne als Schlachtruf eingesetzt wird, ist nichts anderes als ein ganz typisches Stück europäischer Barockmusik.

Eine Entscheidung der Briten gegen Europa wäre daher auch ein Votum gegen einen nicht unbeträchtlichen Teil der althergebrachten britischen Identität. Paradoxerweise sind es aber vor allem Konservative - also jene, die sich das Bewahren auf die Fahnen geschrieben haben - die Großbritannien von Europa lösen und damit einen Teil ihrer Wurzeln kappen wollen.

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