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Dezentralisierung ist ein Schlagwort, das in der Union Hochkonjunktur hat - aber bestenfalls in 15 Jahren zum Tragen kommen dürfte: Heinrich Neisser, Inhaber des Lehrstuhls für die "Politik der Europäischen Integration" in Innsbruck, über die EU und das Subsidiaritätsprinzip.

Die Furche: Wie wird sich der Beitritt der neuen Mitglieder auf die Entscheidungsfähigkeit der Brüsseler Zentrale auswirken?

Neisser: Wo einstimmige Beschlüsse erforderlich sind, wird es zu einer Schwächung kommen. Unter den neuen Mitgliedern gibt es eine Menge Kleinstaaten, die alle die Möglichkeit haben, etwas durch ein Veto zu verhindern. Inwieweit das Subsidiaritätsprinzip bedeutsamer wird, ist schwer zu sagen. Man muss sich vor Augen halten, dass die neuen Mitglieder zum Großteil Länder sind, die eine jahrzehntelange Tradition eines kommunistischen Totalitarismus, also ein zentralistisch gelenktes politisches System hatten.

Die Furche: Was wird mit dem Subsidiaritätsprinzip bezweckt?

Heinrich Neisser: Es ist ein Gestaltungsprinzip, das kleine Einheiten in einem komplexen gesellschaftlichen System schützen soll. So hat es die Katholische Soziallehre verstanden, der es vor allem um den Schutz der Familie gegangen ist. Jede kleine Einheit sollte das tun können, was sie mit eigenen Kräften besorgen kann.

Die Furche: Welche Rolle spielt dieses Prinzip in der EU?

Neisser: Die Länder haben Anspruch darauf, das zu tun, was sie mit eigenen Kräften bewältigen können. Nur jene Angelegenheiten, die allein die supranationale Ebene leisten kann, sollen in die Zuständigkeit der Gemeinschaft übertragen werden. Subsidiarität ist heute auch ein Schlagwort für den Kampf gegen den zunehmenden Zentralismus in der Union, für eine Politik des "Näher zum Bürger", also für eine größere Rolle für lokale Einheiten.

Die Furche: Wie sind die Kompetenzen zwischen den Staaten und der EU aufgeteilt?

Neisser: Es gibt Kompetenzen, die ausschließlich der Gemeinschaft zugeordnet sind: die gemeinsame Handels-, Teile der Binnenmarkt- und der Agrarpolitik. Sensibel sind alle Bereiche, in denen die Zuständigkeiten geteilt sind. Da hat der Verfassungs-Entwurf die Kategorie der geteilten Zuständigkeiten ausdrücklich festgeschrieben: etwa in der Kultur-, Sozial-, Umweltpolitik...

Die Furche: Gibt es Bereiche, in denen die EU keine Kompetenzen hat?

Neisser: Die Bildungspolitik ist eine nationale Aufgabe. Allerdings entwickelt sich gerade in der Bildungspolitik heute ein Netz von Kooperationen, die zu einer Europäisierung dieses Bereiches führen. Bald wird man davon reden können, dass dieser Sektor - auch ohne Kompetenz der Union - Gemeinschaftscharakter hat.

Die Furche: Wie steht es mit der Gesundheitspolitik?

Neisser: Da gibt es geteilte Kompetenzen. Aber im Kern ist die Gesundheitspolitik eine nationale Angelegenheit, etwa die Gestaltung des Spitalwesens. Die Gemeinschaft hat nur die Möglichkeit in der Gesundheitsvorsorge Programme zu entwickeln.

Die Furche: Nehmen die zentralen Kompetenzen mit der Zeit eher zu?

Neisser: Bis zum Vertrag von Amsterdam - er ist 1999 in Kraft getreten - gab es einen Prozess der zunehmenden Übertragung von Aufgaben an die Gemeinschaft. Von Anfang an war die Agrarpolitik und der Binnenmarkt ein harter Kern, später ist die Regionalpolitik als Gemeinschaftsaufgabe entstanden. Durch die "Einheitliche Europäische Akte" ist die Umwelt, die Forschungs- und Entwicklungspolitik ein Gemeinschaftsfeld geworden. Durch den Vertrag von Maastricht, der die politische Union begründet hat, sind auch die Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Kriminalitätsbekämpfung eine Unionsaufgabe geworden. Seit Amsterdam sind die Staaten in der Übertragung von Kompetenzen aber sehr vorsichtig geworden.

Die Furche: Gibt es Staaten, die Subsidiarität besonders befürworten?

Neisser: Das hängt von deren Binnenstruktur ab. Für eine vitale Anwendung des Subsidiaritätsprinzips braucht man föderal strukturierte politische Systeme. Sie sind in der Union eher selten. Frankreich, Großbritannien, die skandinavischen Länder sind zentralistische Systeme. Föderalistische Traditionen haben Deutschland, Österreich, Belgien.

Die Furche: Wer überwacht, dass die Brüsseler Zentrale ihre Kompetenzen nicht überschreitet?

Neisser: Bisher waren alle Institutionen, Rat, Kommission, EU-Parlament, verpflichtet, geplante Maßnahmen auf ihre Vereinbarkeit mit dem Prinzip zu überprüfen. Der Ausschuss der Regionen wollte der eigentliche Wächter sein, was ihm bis heute jedoch nicht gelungen ist. Eine Wächterrolle bekamen die nationalen Parlamente.

Die Furche: Trägt die EU dem von Ihnen erwähnten Prinzip der Bürgernähe auch wirklich Rechnung?

Neisser: Seit dem Vertrag von Maastricht gilt der Grundsatz, dass man die Entscheidung "closer to the citizens" treffen müsse, also möglichst bürgernah. Das ist ein Auftrag zur Dezentralisierung des Systems. Es geht also um die Schaffung einer unteren Ebene, in der Entscheidungen, die den Bürger unmittelbar betreffen, durch dessen Mitwirkung getroffen werden. Diese Ausrichtung auf mehr Bürgernähe hat direkte Auswirkungen auf die Diskussion innerhalb der Staaten gehabt, vor allem in Italien und Spanien.

Die Furche: In Frankreich gab es die Kritik, dass die Abgabe von Kompetenzen an Brüssel und der Druck zur Regionalisierung funktionierende staatliche Ordnung unterminiere. Wie sehen Sie das?

Neisser: Es wird die Horrorvision vom Ende des Nationalstaates an die Wand gemalt. Kurz- und mittelfristig kann davon keine Rede sein. Langfristig kann es schon zu einer Bedeutungsänderung kommen. In der europäischen Verfassung ist jedoch ein Artikel vorgesehen, der ausdrücklich von der nationalen Identität der Mitglieder spricht. Erstmals wird auch definiert, was man unter diesem Begriff versteht: nämlich Verfassungsautonomie. Das ist eine Art Schutzmantel für das Fortbestehen der Nationalstaaten. Aber zu Relativierungen wird es sicher kommen. Sie benötigen allerdings Zeiträume von 15 bis 20 Jahren.

Die Furche: Im Österreich-Konvent wird vom Beschneiden der Länderkompetenzen gesprochen. Ist das also gegen den europäischen Trend?

Neisser: Sicher ist da manches reformbedürftig. Ich meine aber, dass die Länder im europäischen Prozess eine neue Rolle entwickeln können. Ich plädiere für eine Aufwertung der Landtage als Partnerschafts-Institutionen zu Regionen außerhalb Österreichs. Bei dieser Zusammenarbeit werden die Bundesländer eine wesentliche Rolle spielen. Erfolgreich ist die Region Tirol. Im Osten Österreichs gibt es eine interessante Entwicklung zum pannonischen Raum, die Westungarn und das Burgenland näher zusammenführt. Es wächst das zusammen, was zusammengehört.

Die Furche: Ist es denkbar, dass Brüssel Kompetenzen abgibt, dass es zu einer Renationalisierung kommt?

Neisser: Eine Renationalisierung kann vor allem aber durch die finanzielle Frage aktuell werden. Die EU kann die Agrarpolitik und die Regionalförderung in dem Ausmaß wie bisher nach dem Eintritt der neuen Mitglieder nicht mehr finanzieren. Die Frage steht im Raum, ob für die Agrarpolitik nicht wieder ein System eingeführt werden soll, an dem sich die Mitgliedsstaaten beteiligen sollen, also eine Art Renationalisierung. Eine Renationalisierung im klassischen Sinn des Wortes, dass also Gemeinschaftsaufgaben wieder zurückverlagert werden, kann ich mir nicht vorstellen, mit Ausnahme der Agrarpolitik.

Die Furche: Der ehemalige Kommissionspräsident Jacques Delors hat einmal vorhergesagt, dass 80 Prozent des Rechts aus Brüssel kommen würden. Sehen Sie das auch so?

Neisser: Zwischen 70 und 80 Prozent ist realistisch. Allerdings haben die nationalen Gesetzgeber zum Beispiel bei den EU-Richtlinien Gestaltungsspielräume - auch wenn der Rahmen aus Brüssel kommt.

Das Gespräch führte Christof Gaspari.

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