Trauma Missbrauch Einsamkeit - © Karin Birner

Jennifer Freyd: „Der Verrat wird nicht gesehen“

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Jahrzehnte vor #MeToo stand Jennifer Freyd als Missbrauchsopfer in der Öffentlichkeit. Heute ist die amerikanische Psychologin die Pionierin in der Forschung zu institutioneller Gewalt.

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Jahrzehnte vor #MeToo stand Jennifer Freyd als Missbrauchsopfer in der Öffentlichkeit. Heute ist die amerikanische Psychologin die Pionierin in der Forschung zu institutioneller Gewalt.

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Zwischen 25. November und 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, finden seit 1991 die „16 Tage gegen Gewalt an Frauen“ statt (siehe auch den letztwöchigen FURCHE-Artikel zur Istanbul-Konvention). Im Rahmen der internationalen Kampagne gibt es auch in Österreich zahlreiche Veranstaltungen. Das Thema „institutionelle Gewalt“ steht heute besonders im Fokus der beteiligten Frauen- und Gewaltschutzvereine. Die Pionierin dieses Forschungsfelds ist Jennifer Freyd, Psychologieprofessorin an der Universität Oregon in den USA, die 2010 das „Center for Institutional Courage“ gegründet hat.

Freyd wurde auch durch ihre eigene Geschichte bekannt. Anfang der 1990er Jahre – rund ein Vierteljahrhundert vor #MeToo – landete ihre persönliche Missbrauchserfahrung gegen ihren Willen in den Medien. Als Reaktion auf die Aussagen seiner Tochter gründete der Beschuldigte, ihr Vater Peter Freyd, die „False Mem­o­ry Syndrom Foundation“, die bis 2019 bestand. Es handelte sich um eine Beratungsstelle für Menschen, denen Missbrauch vorgeworfen wird. Das umstrittene Konzept der „Scheinerinnerungen“ steht dabei im Mittelpunkt. Die FURCHE erwischte Jennifer Freyd an der US-Westküste zum großen Zoom-Interview.

DIE FURCHE: Frau Professor Freyd, #MeToo hat den Umgang mit sexuellen Übergriffen in der Gesellschaft wesentlich verändert. Wie war die Situation für Sie, als der familiäre Missbrauch an Ihnen 1993 pu­blik ­wurde?

Jennifer Freyd: Dass meine Geschichte an die Öffentlichkeit kam, war nichts, das ich mir ausgesucht habe. Ich bewundere Menschen, die sich mit ihrer Erfahrung zeigen. Ich persönlich wäre viel zu schüchtern dafür. Was ich damals als besonders schlimm erlebte, war, dass mir viele Menschen nicht glaubten: Ich arbeitete schon an der Universität, parallel wurde ich aber medial wieder zu „Jennifer, der Tochter“. Ich bin sicher, würde meine Geschichte heute – nach #MeToo – pu­blik gemacht, wäre die Rezeption eine ganz andere!

DIE FURCHE: In deutschsprachigen Medien ist seit einiger Zeit eine heftige Diskussion über den Wahrheitsgehalt von traumatischen Erinnerungen entbrannt. Das erinnert frappant an die amerikanischen „Memory Wars“, die durch die Gründung der „False Memory Syndrom Foundation“ ausgelöst wurden. Wie steht es derzeit um diese Auseinandersetzung in den USA?

Freyd: Natürlich gibt es immer noch Menschen, die das Argument der „Scheinerinnerungen“ pushen, besonders als Verteidigungsstrategie in Gerichtsverfahren. Mein Eindruck ist jedoch, dass es nicht mehr wirkt. Das Wissen, dass traumatische Erinnerungen nicht stringent sein müssen und teilweise kommen und gehen, ist mittlerweile weitverbreitet. Zumindest in der Wissenschaft gibt es diesbezüglich schon lange keine Zweifel mehr. Auch die Strategie der Täter-Opfer-Umkehr ist heute in den USA medial bekannt. Opfer, denen ihre Erinnerungen nicht geglaubt werden, wissen mittlerweile, dass es sich um eine gezielte Strategie handeln kann. Ich habe diese Taktik mit einem Konzept beschrieben, das sich mit den fünf Buchstaben ­DARVO abkürzen lässt: verleugnen, angreifen und Opfer und Täter umkehren („Deny, Attack, and Reverse Victim and ­Offender“). Mich wundert eigentlich, dass die Debatte zu Scheinerinnerungen jetzt noch in Europa geführt wird.

DIE FURCHE: In letzter Zeit rückt institutionelle Gewalt zunehmend in das Licht der Öffentlichkeit. Sie befassen sich in Ihrer Forschung mit einem ähnlichen Begriff, dem institutionellem Verrat („institutional betrayal“). Was ist darunter zu verstehen?

Freyd: Institutioneller Verrat tritt auf, wenn die Institution, der Sie vertrauen oder von der Sie abhängig sind, Sie schlecht behandelt. Das kann ganz offensichtlich passieren, etwa wenn eine Regierung Kinder an der Grenze dazu zwingt, von ihren Eltern getrennt zu werden. Es kann aber auch weniger offensichtlich sein. Im Prinzip betrifft es jedes Versäumnis, Sie in einer Situation zu schützen, in der Sie ganz selbstverständlich und zu Recht davon ausgehen, Schutz zu erhalten. Dies ist etwa der Fall, wenn ein Mitarbeiter angibt, sexuell belästigt zu werden – danach aber weiter Opfer bleibt. Der Arbeitgeber hätte die Pflicht, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen; sonst ist das in­stitutioneller Verrat. Als ich vor vielen Jahren begann, in diese Richtung zu forschen, interessierten mich zunächst Genozide, zum Beispiel gegenüber den Native Americans: Ich finde, dass wir hier ähnliche Mechanismen sehen wie bei institutionellem Verrat – nur eben in viel größerem Maßstab und gegen eine ganze Gruppe gerichtet.

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