Suizidgedanken bei jungen Menschen - © Shutterstock

Suzidprävention: Warum Journalismus Leben retten kann

19451960198020002020

Das Thema Suizidalität ist noch immer tabu. Umso wichtiger ist achtsame Berichterstattung. Persönliche Gedanken von Golli Marboe zum „Welttag der Suizidprävention“ am 10. September – und zum „Papageno-Medienpreis“.

19451960198020002020

Das Thema Suizidalität ist noch immer tabu. Umso wichtiger ist achtsame Berichterstattung. Persönliche Gedanken von Golli Marboe zum „Welttag der Suizidprävention“ am 10. September – und zum „Papageno-Medienpreis“.

Werbung
Werbung
Werbung

Wir leben in einer Zeit, in der es medial kaum noch Tabus zu geben scheint. Insbesondere die Kommunikation in Sozialen Medien hat dazu geführt, dass wir mit Nachrichten und Informationen konfrontiert werden, mit denen wir uns eigentlich gar nicht beschäftigen möchten: Seien das Bilder aus dem Krieg in der Ukraine, IS-Videos von Folter und Hinrichtungen oder auch die Verherrlichung längst überwunden geglaubter Geisteshaltungen (wie beim aktuellen Video der FPÖ-Jugend).

Hat Meinungsfreiheit Grenzen? Wir in Europa meinen – anders als in den USA – unbedingt: Ja! Denn wir erachten den Schutz der Persönlichkeit und die Würde des einzelnen Menschen in unseren liberalen Demokratien als ebenso wichtig wie das Informationsbedürfnis der Bevölkerung. Bei Beiträgen über Suizidalität gilt es aber – neben diesen beiden Aspekten – noch einen dritten zu beachten. Denn gut recherchierte journalistische Arbeiten können bilden. Sie sollten nie belehren, sondern durchaus das Wissen und die Kompetenz der Leserinnen und User stärken.

Mein Sohn Tobias hat sich vor bald fünf Jahren das Leben genommen. Seit damals stellen sich uns Hinterbliebenen unendlich viele Fragen. Was haben wir übersehen? Warum hat unser Kind nicht gespürt, wie lieb wir es haben? Wir haben doch eh soviel geredet? Praktisch alle diese Fragen werden unbeantwortet bleiben. Aber einen Befund gibt es tatsächlich in unserer Familie: Wir wussten einfach viel zu wenig über Fragen des psychischen Wohlbefindens.

Wäre Tobias damals gestolpert und hätte sich das Bein gebrochen, hätten wir alle gewusst, was zu tun ist. Aber wenn jemand vierzehn Tage lang traurig wirkt, sich zurückzieht, vielleicht ein wenig eigenartig redet – dann wussten zumindest wir leider nicht wirklich, wie man am besten reagieren sollte.

Das Schweigen über die Seele

Denn über Fragen der Psyche und der Seele reden wir dann eben doch nicht so viel. Durchschnittlich drei Menschen nehmen sich jeden Tag in Österreich das Leben – doch darüber zu sprechen, ist noch immer ein Tabu.

Und hier greift die Idee des Papageno-Medienpreises, der dieser Tage im Presseclub Concordia anlässlich des Welttages der Suizidprävention verliehen wurde (er ging dieses Jahr an profil-Redakteurin Edith Meinhart, Hellin Jankowski von der Presse und Lukas Matzinger vom Falter, Anm.). Die Botschaft lautet: Journalismus kann Leben retten. Denn Menschen, die in einer psychischen Krise stecken, ziehen sich immer mehr zurück. Sie gehen keinen Hobbys mehr nach, treffen keine Freunde mehr, bleiben daheim. Aber auch diese Menschen, die sich in einer „suizidalen Verengung“ befinden, nützen weiter Medien. In achtsam und kompetent gestalteten Beiträgen kann man sie noch erreichen und etwa von Menschen berichten, die Krisen überwunden haben.

Die Würdigung suizidpräventiver journalistischer Arbeiten ist ein Puzzle-Stein. Weitere warten noch auf uns.

Menschen, die an Suizid denken, möchten nicht tot sein, sie möchten nur nicht mehr so weiterleben. Berichte von Männern und Frauen, die sich auch in einer solchen existenziellen Krise befanden und glaubhaft darlegen, dass es auch ein Leben nach der Krise gibt, können psychisch belasteten Menschen neue Kraft geben. Wenn man beschreibt, wie verzweifelt Hinterbliebene auf den Tod eines nahen Menschen reagieren und wie häufig sie selbst in eine ähnliche suizidale Krise schlittern wie die Verstorbenen, kann dies auch die Wahrnehmung suizidaler Menschen verändern: Viele meinen nämlich, sie wären nur eine Belastung für die Anderen – und deshalb sei es besser, sie wären gar nicht mehr da.

Und schließlich können Journalistinnen und Journalisten auch die Einladung formulieren, sich Hilfe zu suchen – und die zahlreichen Hilfseinrichtungen in Österreich vorstellen. Sie können so mit jenen vernetzen, die wissen, wie man auf vierzehn Tage Traurigkeit oder andere psychische Probleme reagieren soll.

Den "Papageno-Effekt" nutzen

Diese von Gernot Sonneck und Thomas Niederkrotenthaler nachgewiesene Chance auf einen positiven Nachahmungseffekt, der „Papageno-Effekt“, ist inzwischen auch Teil der WHO-Empfehlungen zur Kommunikation über Suizidalität. Nach den Arbeiten von Sigmund Freud, Viktor Frankl und Erwin Ringel wieder eine epochale Erkenntnis zum Umgang mit der Seele, die von Wien in die Welt gegangen ist.

Allerdings – und das wäre wohl eine noch viel essenziellere suizidpräventive Aufgabe unserer Zeit – sollten wir nicht nur in der Kommunikation über Suizide achtsamer werden, sondern alle auch gemeinsam darüber nachdenken, warum sich noch immer so viele Menschen in unserem Land das Leben nehmen möchten. Was hat das mit unserem Bildungssystem, mit dem Medienkonsum, mit der Leistungsgesellschaft, mit der Verteilungsgerechtigkeit zu tun? Wir sollten unseren Diskurs also nicht nur darüber führen, wie wir psychisch belasteten Menschen aus Krisen helfen können – wir müssen auch an einer Gesellschaft arbeiten, die Menschen gar nicht erst psychisch krank werden lässt.

Ein Puzzle-Stein zur Verbesserung der Situation ist die Würdigung von suizidpräventiven journalistischen Arbeiten. Doch viele weitere Puzzle-Steine warten noch auf uns.

Der Autor ist Obmann des „Vereins zur Förderung eines selbstbestimmten Umgangs mit Medien“ (VsUM). 2021 ist sein Buch „Notizen an Tobis“ (Residenz) erschienen.

Hinweis: Sollten Sie sich in einer Krise befinden – die Telefonseelsorge (142) ist rund um die Uhr kostenlos erreichbar. Wenn Sie sich um jemanden in Ihrer Umgebung Sorgen machen, finden Sie unter bittelebe.at wichtige Informationen. Weitere Informationen und Hilfe gibt es auch unter gesundheit.gv.at/leben/suizidpraevention

Navigator

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen?

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf mehr als 175.000 Artikel seit 1945 – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf mehr als 175.000 Artikel seit 1945 – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung