Tabus - © Foto: iStock / oscarcalero (Bildbearbeitung: Florian Zwickl)

Tabus: Unausgesprochen, aber mächtig

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Im Graubereich zwischen Recht und Moral prägen Tabus unser Zusammenleben und den Umgang mit Sexualität und dem menschlichen Körper. Über deren Ursprung, Notwendigkeit – und potenziellen Bruch.

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Im Graubereich zwischen Recht und Moral prägen Tabus unser Zusammenleben und den Umgang mit Sexualität und dem menschlichen Körper. Über deren Ursprung, Notwendigkeit – und potenziellen Bruch.

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Tabu ist vermutlich das nichtindogermanische Fremdwort mit der größten Reichweite: Es findet sich an den Laufhäusern städtischer Ausfallstraßen ebenso wie als Titel von Streaming-Serien. Das Tabu entstammt einer Kultur und Sprache, die uns ferner nicht sein könnte, nämlich polynesischen Inselkulturen des Pazifiks, von wo es James Cook im 18. Jahrhundert nach Europa und zu den frühen Anthropologen brachte. Doch anders als das mit dem Tabu inhaltlich verbundene Mana machte das Wort Tabu Karriere in der gesamten westlichen Welt, auch bei jenen, die von seiner Herkunft längst nichts mehr wissen. Mit Tabu konnte offenbar endlich etwas benannt werden, was in den europäischen Kulturen bekannt, aber seltsam unbenannt war.

In seinem ursprünglichen kulturellen und religiösen Kontext bedeutete Tabu ein gesellschaftliches Verbot oder eine Einschränkung, die durch eine übernatürliche Macht (das Mana) oder deren Konkretionen in Gottheiten begründet und auch sanktioniert werden. Das Tabu regelt all jene Bereiche, wo verschiedene Ordnungen aufeinandertreffen, es bewirkt Distinktion und Segregation und konstruiert so eine eigene Ordnung für alle Lebensbereiche einer Gesellschaft.

Vieles von dem, was die Anthropologie bei den Herkunftskulturen des Wortes Tabu als dessen Wirkungsbereich beschreibt, ist in unseren gegenwärtigen westlichen Gesellschaften in den Bereich des Rechts oder der Moral, der Medizin oder Psychologie verschoben worden. Den Begriff Tabu verwenden wir für jene Graubereiche, die in keine dieser wissenschaftlichen oder staatlichen Disziplinen passen.

Tabus sind mächtiger, aber auch diffuser als rechtliche Verbote oder auch moralische Normen, sie werden bis heute mit einem prärationalen Bereich verbunden, der bestehen bleibt, selbst wo kein Gesetz oder keine Moral im Kantʼschen Sinn uns hindern würde: Niemand verbietet uns, Exkremente zu essen, und wir verstoßen damit gegen keine klassische moralische Norm, aber dennoch würde jemand, der es tut, gesellschaftlich geächtet, und kaum jemand würde derartiges Handeln zugeben – es ist tabu.

Religion und der Körper

Wie kommt dieses Wort in roter Leuchtschrift an die Fassaden europäischer Bordelle? Die abendländische Tradition kennt, geprägt von Judentum und Christentum, Tabus nicht dem Wort, wohl aber der Sache nach. Verbote und Einschränkungen, welche in einer religiösen Ordnung begründet werden und das Leben des Individuums wie der Gesellschaft regeln, finden wir im Alten Testament zuhauf. Sie kreisen um die Unterscheidung von rein und unrein – und beziehen sich letztlich alle auf den menschlichen Körper. Was darf in Kontakt mit dem Körper kommen? Was darf gar in diesen Körper aufgenommen werden? Und was ist mit dem, was aus diesem Körper austritt? Und unter welchen dieser Bedingungen darf sich der menschliche Körper dem Allerheiligsten nähern?

Der Tabubruch als ultimativer Akt der Rebellion hat in christlichen Gesellschaften auch deshalb eine lange Tradition, weil er Befreiung und Gesellschaftskritik verspricht.

Der Körper stellt einen Mikrokosmos der Weltordnung dar, das Einhalten seiner Grenzen und Abgrenzungen hat direkten Einfluss auf die Gesellschaft und die Beziehung zu Gott. Die sogenannten Reinheitsvorschriften sind eben keine Anleitungen zur Lebensmittel- und Körperhygiene, sondern Tabus, welche Grenzüberschreitungen diverser Ordnungen, die in der göttlichen Ordnung gründen, markieren und sanktionieren. Überall dort, wo diese Grenzen zu zerfließen drohen, manchmal sogar im buchstäblichen Sinn, wenn es um Körperflüssigkeiten geht, werden Tabus aufgestellt.

Das vielleicht eindrücklichste Beispiel sind die Vorschriften und Verbote rund um das Menstruationsblut. Nicht nur die menstruierende Frau gilt sieben Tage als unrein, auch wer sie berührt und alles, worauf sie sich setzt, worauf sie liegt, ist unrein, und wer diese Dinge berührt, „muss seine Kleider waschen, sich in Wasser baden und ist unrein bis zum Abend“ (Lev 15,22). Die Wiederherstellung der Reinheit ist eine kultische Handlung, mit der Gott versöhnt werden soll, wie es in Levitikus 15,30 heißt.

Tabus rund um Körperflüssigkeiten wirken in unserer Gesellschaft am deutlichsten nach. Ein Beispiel wie aus dem anthropologischen Lehrbuch ist etwa die Werbung für Damenhygieneartikel, in der bis in die jüngste Zeit die Wirksamkeit mittels hellblauer Flüssigkeit demonstriert und das Wort Blut nie erwähnt wurde – was ein Bild- und Sprachtabu gleichermaßen illustriert. Gleichzeitig zeigt uns dieses Beispiel sehr gut, dass Tabus auch dort existieren und wirksam sein können, wo sie ihre Begründung in einer höheren Macht oder religiösen Sphäre längst verloren haben.

Religionshistorisch komplexer stellt sich die Situation rund um das Spannungsfeld Sexualität, Körper und Tabu dar. Einerseits wirken hier nach wie vor (Un-)Reinheitsvorstellungen in Zusammenhang mit Körperflüssigkeiten nach, und hinter dem Schlagwort „tabulos“ auf einschlägigen Internetseiten verbergen sich oft Sexualpraktiken, die explizit um einen unkonventionellen Umgang mit diesen Flüssigkeiten kreisen.

Andererseits zeigt sich hier die enge Verknüpfung des Tabus mit einem sehr spezifischen Konstrukt der christlichen Tradition, nämlich der Sünde. Ihrer neu­testamentlichen Entstehung nach ist die Sünde dem Tabu entgegengesetzt: Sie ist ein individuelles Fehlverhalten, das eben nicht über die Ordnung des Körpers, sondern in der Seele ihre religiöse Abbildung findet – die Seele muss rein werden, um Gott begegnen zu können, nicht der Körper. Die christliche Sexualmoral verbindet Sünde und Tabu und reguliert so, anders als das Tabu im traditionellen Sinn, nicht nur die Körper und das Verhalten, sondern auch die Seelen und Gedanken der Gläubigen, wie Michel Foucault ausführt. Wenn Burkhard von Regensburg im 13. Jahrhundert homosexuelle Praktiken in seinen Predigten als „stumme Sünde“ bezeichnet, verbindet er Sprachtabu und christliche Sexualmoral und macht bestimmte körperliche Handlungen zu etwas Unaussprechlichem.

Sünde und Tabu

Der Tabubruch als ultimativer Akt der Rebellion hat vielleicht auch deshalb in christlichen Gesellschaften eine lange Tradition, weil er in der Verbindung von Sünde und Tabu ein reflexives Moment hat, das individuelle Befreiung und Gesellschaftskritik in einem verspricht. Diese lange Tradition von den Brüdern vom Freien Geist über die Wiedertäufer von Münster zu Marquis de Sade und Otto Mühl, die allesamt durch den öffentlichen Bruch sämtlicher Tabus rund um Körper und Sexualität berühmt geworden sind, macht zugleich die Bedeutung von Tabus jenseits „primitiver“ Stammeskulturen deutlich. Sie schützen jene, die sich selbst nicht schützen können: Frauen, Kinder, in der sozialen Hierarchie schlechter Gestellte. Die Tabulosigkeit der roten Leuchtschrift ist vielleicht für die Männer, die das Haus oder die Internetseite dahinter besuchen, eine Erfahrung individueller und gesellschaftlicher Freiheit, aber sicher nicht für die Frauen oder gar Kinder, an denen sie diese Erfahrung machen.

Das Tabu als prärationale Ordnung, die es uns verbietet, Traditionen kritisch zu hinterfragen, und die unsere Körper in Sagbares und Unsagbares unterteilt und uns so über ihre Bedürfnisse und Bedrängnisse schweigen lässt, gehört tatsächlich ins ethnologische Museum.

Das Tabu als gesellschaftliches Regulativ für jene Bereiche, die weder durch Gesetzgebung noch Moral ausreichend erfasst werden können, als letzte Übereinkunft darüber, was nicht getan werden darf, selbst wenn es möglich und vielleicht sogar erlaubt wäre, hat noch nicht ausgedient.

Die Autorin lehrt Religionswissenschaft an der kath.-theol. Fakultät der Uni Graz.

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