Jungle - "Jungle" - © Tobias Marboe

Suizidprävention: Im Angesicht der Angst

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Golli Marboe hat in „Notizen an Tobias“ den Suizid seines Sohnes verarbeitet. Wie Experten mahnt auch er am Ende der Pandemie zu besonderer Aufmerksamkeit und Solidarität.

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Golli Marboe hat in „Notizen an Tobias“ den Suizid seines Sohnes verarbeitet. Wie Experten mahnt auch er am Ende der Pandemie zu besonderer Aufmerksamkeit und Solidarität.

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Es sind Tage wie diese, an denen für Golli Marboe die Erinnerungen besonders plastisch werden. An damals, als sein Sohn Tobias noch lebte. Mit ihm war er 2016 bei der Fußball-EM in Paris, und mit ihm tippte die ganze Großfamilie leidenschaftlich auf Matchergebnisse. Diesen Freitag, beim EM-Start, wird Tobias umso schmerzlicher fehlen. Doch die erinnerten Bilder sind im Gedächtnis seines Vaters nachhaltig gespeichert. Gehen lernen, Rad fahren lernen, schwimmen lernen, über Politik diskutieren oder eben gemeinsam Fußball schauen: All diese Entwicklungsbilder, die Eltern unauslöschlich eingebrannt sind, zählen für Golli Marboe doppelt.

Es ist der 26. Dezember 2018, als sich Tobias Marboe mit 29 Jahren das Leben nimmt. Die Familie hat um seine Angst und Depression gewusst, auch um seine psychotischen Schübe. Man hoffte, durch Gespräche helfen zu können. Doch diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. „Gibt es ein größeres Scheitern als den Suizid des eigenen Kindes?“, notiert Golli Marboe später. „Die Antwort ist einfach: nein!“ Dennoch versucht er, in kleinen Schritten zu etwas Ähnlichem wie Alltag zurückzukehren: Der vierfache Vater beginnt, nach Art eines Tagebuches Notizen an seinen verstorbenen Zweitgeborenen zu schreiben. Sie reichen von dessen Todestag bis zu seinem 30. Geburtstag am 3. August 2019. Das Ergebnis nennt sich „Notizen an Tobias“, ist im März dieses Jahres erschienen und wurde seitdem vielfach rezipiert.

Nicht nur der Aufarbeitung des eigenen Traumas soll dieses Buch dienen, sondern auch der Solidarität mit anderen hinterbliebenen Eltern – und vor allem der Prävention. Während sensationsheischende Berichterstattung über Suizide möglicherweise zu Nachahmungstaten führt („Werther-Effekt“), soll ein sachlicher, aber empathischer Diskurs eine Enttabuisierung und damit Suizidverhütung bewirken („Papageno-Effekt“). Und diesem Effekt hat sich Golli Marboe, TV-Produzent sowie Obmann des Vereins zur Förderung eines selbstbestimmten Umgangs mit Medien, verschrieben.

Angst vor Post-Corona-Suiziden

Rund 1200 Menschen nehmen sich jedes Jahr in Österreich das Leben. Die Zahl sinkt seit Jahren – und liegt heute gerade einmal bei der Hälfte von 1986. Selbst im Pandemiejahr 2020, in dem die psychischen Belastungen für alle so deutlich spürbar waren, hat sich dieser Rückgang fortgesetzt: Minus vier Prozent waren bei den Suiziden gegenüber 2019 zu verzeichnen. Doch die Sorge ist groß, dass die Kurve gerade jetzt – angesichts neuer Post-Corona-Vitalität und nachlassender Hilfen – wieder ansteigen könnte, meint Thomas Niederkro­tenthaler, Sozialmediziner am Zentrum für Public Health der Med-Uni Wien und Entdecker des Papageno-Effekts. Dieses Phänomen könne man auch mit dem Monat Mai vergleichen: Weil die eigene Traurigkeit deutlicher zu spüren ist, wenn alle anderen lebendig werden, liegt die Suizidrate hier immer ein wenig höher.

Doch wie sind die niedrigen Suizid­zahlen trotz belastender Lockdowns überhaupt zu erklären? „Gerade in der ersten Phase der Pandemie gab es deutliche Solidarisierungseffekte“, erklärt Thomas Niederkrotenthaler. Zudem hätten plötzlich Angebote existiert, die zuvor jahrelang vergeblich gefordert worden waren – etwa Psycho­therapie auf Krankenschein via Skype. Und auch die wirtschaftlichen Hilfen hätten das Ihre dazu beigetragen, um die existenziellen Sorgen abzufedern. Dass Arbeitslosigkeit und Suizidalität stark zusammenhängen, habe sich laut dem Sozial­forscher spätestens während der Finanzkrise 2008 weltweit gezeigt.

Golli Marboe fühlt sich nicht schuldig am Tod seines Sohnes Tobias – aber doch ,mitverantwortlich, weil ich so wenig darüber wusste‘.

Umso gefährlicher sei, wenn die aktuellen Hilfen nun einfach auslaufen und Menschen mit ihren Ängsten und finanziellen Sorgen alleingelassen werden. Vor allem auf die Jungen müsse sich der Fokus richten, meint Niederkrotenthaler, zumal sie von den Maßnahmen zur Pandemie­bekämpfung psychisch besonders hart getroffen wurden: 39 Prozent der 16- bis 29-Jährigen leiden unter Depressions­symptomen, 37 Prozent unter Angst und elf Prozent unter Suizidgedanken. „All das sind Risikofaktoren für einen tatsächlichen Suizid – und wir müssen alles tun, damit das nicht durchschlägt“, so der Experte.

Sinnsuche nach der Dekonstruktion

Auch Golli Marboe sorgt sich um die junge Generation. „In unseren Gesellschaften wurden alle großen, werteprägenden Gemeinschaften wie Kirchen und Parteien dekonstruiert. Das ist einerseits gut, doch andererseits haben es gerade junge Menschen dadurch bei der Orientierungssuche noch schwieriger als wir“, erklärt er. Auch hätten viele Junge erstmals erlebt, „dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen“ - und dass auch die Erwachsenen keine Antworten mehr wüssten. Zudem werde durch materialistischen Uniformdruck alles Andere, Eigenbrötlerische ausgegrenzt. Auch Menschen mit Angst und Depression, die nicht einfach so „funktionieren“.

Sich einmischen, etwaige Suizidgedanken direkt ansprechen und therapeutische Hilfe empfehlen: Dazu rät er heute, falls (junge) Menschen Probleme haben. Der Rückzug von Freunden gehört ebenso zu möglichen Signalen wie Hoffnungslosigkeit, Wechsel der Gewohnheiten, Veränderungen im Verhalten, übergroße Selbstkritik, abgegebene Geschenke oder ein dezidiert geäußerter Todeswunsch. „Es gibt das Gerücht, dass man einen Suizid erst auslöst, wenn man jemanden auf etwaige Suizidgedanken anspricht“, weiß Marboe. „Doch das ist falsch, denn damit zeigt man im Gegenteil Anteilnahme und Solidarität. Falsch wäre nur, traurige Menschen alleinzulassen." Nicht nur jeder und jede Einzelne, auch die Gesellschaft insgesamt sei gefordert: Mit Verve plädiert er für ein bedingungsloses Grundeinkommen, um allen Menschen – auch Kreativen wie seinem Sohn – eine finanzielle Existenzgrundlage zu sichern.

Er selbst fühlt sich nicht schuldig am Tod von Tobias – aber „mitverantwortlich, weil ich so wenig darüber wusste“, wie er sagt. Sein Buch soll Einladung sein, sich damit zu konfrontieren. Einfach ist die Lektüre freilich nicht. „Manche berichten, dass sie das Buch zur Hälfte weglegen mussten“, erzählt Golli Marboe. Andere bekamen aber auch den Mut, die Angst endlich beim Namen zu nennen. Allein dafür haben sich seine Notizen an Tobias gelohnt.

Fakt

Hinweis

Hilfe für Personen mit Suizidgedanken sowie deren Angehörige gibt es unter www.suizid-praevention.gv.at sowie österreichweit bei der Telefonseelsorge unter der Nummer 142 sowie bei Rat auf Draht unter 147. Auf www.bittelebe.at sind Hilfseinrichtungen speziell für Jugendliche und deren Angehörige zu finden.

Notizen an Tobias - © Residenz Verlag
© Residenz Verlag
BUCH

Notizen an Tobias

Gedanken eines
Vaters zum Suizid
seines Sohnes
Von Golli Marboe
Residenz 2021
224 S., geb., € 24,–

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