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Nüchternheit und Engagement
VERFASSUNG UND VERFASSUNGSWIRKLICHKEIT; Jahrbuch 1966; herausgegeben von Ferdinand A. H e r m e n s, Westdeutscher Verlag Köln und Opladen 1966, 322 Selten, DM 86.-. - VERFASSUNG UND VERFASSUNGSWIRKLICHKEIT; Jahrbuch 1961, 1. Teil; herausgegeben von Ferdinand A. Hernini, Westdeutscher Verlag Köln und Opladen 1967, 155 Selten, DM 22.50.
Eine Gruppe mehrheitlich deutscher Politologen hat es sich zur Aufgabe gemacht, das permamente Spannungsverhältnis zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit in den Mittelpunkt einer Reihe politikwissenschaftlicher Jahrbücher zu stellen. Unter der erfahrenen Leitung von Prof. Ferdinand A. Hermens, dem Ordinarius für Politische Wissenschaft an der Universität Köln, ist eine lebendige Zusammenschau politischer Probleme gelungen, die sowohl der Wissenschaft, als auch der Aktualität verpflichtet ist
Der für den österreichischen Leser interessanteste Aufsatz im Jahrbuch 1966 ist der Beitrag von Karl Heinz Naßmacher, „Die Koalition in Österreich: Entstehung, Arbeitsweise und Zusammenbruch“. Der Autor durchleuchtet das Phänomen der ÖVP-SPÖ-Koalition, gestützt auf ein sehr dichtes Quellenmaterial. Uberzeugend wird der Zusammenhang zwischen Regierungsform und institutionellen Faktoren (v. a. Art. 26 B-VG) aufgezeigt — eine Klarstellung, die wohltut, da man hierzulande noch immer aus Gründen der Bequemlichkeit die institutionelle Problemstellung zugunsten eines unverbindlichen Philosophierens oder einer einseitigen Überbetonung von Detailfragen vernachlässigt. Die Nationalratswahlen 1966 und die anschließende Regierungsbildung werden in knapper und klarer Diktion als Beweis dafür herangezogen, daß die Koalition der beiden Großparteien „nicht eine spezifisch österreichische Regierungsform, sondern eine durch bestimmte Strukturdaten der politisch-sozialen Umwelt verursachten Abweichung vom Modell der parlamentarischen Demokratie“ war (S. 107). Abschließend zeigt der Autor die Möglichkeit, durch eine bewußte Steuerung der politischen Form die politische Wirklichkeit Österreichs besser in den Griff zu bekommen. Von Bedeutung ist in diesem Abschnitt vor allem, daß die Folgen verschiedener Wahlrechtsvarianten (ohne Berücksichtigung der nicht
exakt vorausberechenbaren Änderungen des Wählerverhaltens) skizziert werden. Naßmachers Arbeit erweist sich als eine wesentliche Bereicherung der dünn gesäten politikwissenschaftlichen Literatur über Österreich. Einer umfangreicheren Arbeit, deren Kern die vorliegende Publikation bildet, muß mit großem Interesse entgegengesehen werden.
Hermens („Wahlen, Rassenintegration und nationaler Konsensus in den Vereinigten Staaten“) führt eine Fülle von interessantem Material an; besonders die Zusammenfassung der verschiedenen Untersuchungen des Wählerverhaltens der amerikanischen Neger eröffnet interessante Perspektiven. Werner Kaltefleiter, der schon als Mitarbeiter der hervorragenden Analyse der Bundestagswahl 1961 (Scheuch und Wildenmann, „Zur Soziologie der Wahl“; vgl. „Furche“ 2/67) sich mit Wahlkampfuntersuchungen beschäftigt hat, bietet in seinem Beitrag („Konsens ohne Macht“) eine Studie zur Bundestagswahl 1965, von der Ausgangssituation bis zur Regierun gsbüdung.
Die Analyse Kaltefleiters wird im ersten Teil des Jahrbuches 1967 von Hermens („Verfassungspolitischer Neubeginn?“) weitergeführt. Die große Koalition in Bonn wird als die Chance schlechthin gesehen, der Bundesrepublik die institutionellen Voraussetzungen zu geben, die den demokratischen Verfassungsstaat stärken. Daß die demokratische Stabilität der Bundesrepublik überhaupt in Zweifel gezogen wird, ist nicht zuletzt durch die Erfolge der NPD bedingt. Vera Gemmecke und Kaltefleiter („Die NPD und die Ursachen ihrer Erfolge“) untersuchen die Strukturen dieser Partei, die Nachfolgepartei der NSDAP genannt werden kann. Hier und in allen anderen Beiträgen der beiden Jahrbücher verbindet sich die Nüchternheit wissenschaftlicher Aussage mit dem im Hintergrund stehenden demokratischen Engagement.
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