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Ein archäologisches Bewässerungsprojekt schenkt den bolivianischen Bauern im Andenhochland neue Hoffnung.

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Ein archäologisches Bewässerungsprojekt schenkt den bolivianischen Bauern im Andenhochland neue Hoffnung.

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Wie konnten alle diese Menschen ernährt werden? Wie war es möglich, daß die Bauern den landwirtschaftlichen Überschuß produzierten, der all die anderen Bewohner vom Nahrungserwerb freistellte? Die hervorragenden Architekten, die meisterhaften Goldschmiede, die Astronomen, die die Aussaattage bestimmten, die Ärzte, die bei Epilepsie, Tumoren und anderen Krankheiten Schädelöffnungen durchführten, die Priester, die in goldverzierten Tempeln den Götter opferten? Lange blieb diese Frage ungelöst.

Die Region um Tiwanaku südlich des Titicacasees gehört zu den ärmsten Gegenden Boliviens. Etwa 60.000 Indios leben hier auf 3.800 Metern Höhe von den geringen Erträgen der kargen Böden. Vor der mächtigen Kulisse der schneebedeckten Kordilleren erstreckt sich die baumlose Ebene. Kleine Felder, auf denen Indio-Familien arbeiten, ab und zu ein paar Kühe, Schweine oder Ziegen. Abseits der Schotterpisten kleine Weiler mit strohgedeckten Häuschen aus Lehmziegeln. Die Jungen verlassen die armen Dörfer und wandern in die 80 Kilometer entfernte Hauptstadt La Paz ab.

In der heute so armen Gegend erreichte vor rund 1.500 Jahren, zwischen dem 4. und 8. Jahrhundert, die präkolumbianische Hochkultur von Tiwanaku ihre Blütezeit. Allein in der Hauptstadt Tiwanaku, deren beeindruckende Tempelanlagen die größten archäologischen Sehenswürdigkeiten Boliviens darstellen, lebten damals etwa 125.000 Einwohner. Mit rund drei Millionen Menschen waren die umliegenden ländlichen Gebiete wesentlich dichter besiedelt als heute. "Unsere Studien, an der Wissenschaftler aus 21 Disziplinen mitgearbeitet haben, führten uns zu der erstaunlichen Erkenntnis, daß alle diese Menschen wesentlich besser ernährt waren als heute", berichtet der Archäologe Oswaldo Rivera, langjähriger Direktor des archäologischen Instituts Boliviens. Gemeinsam mit dem Forscher Alan Kolata von der Universität Chicago ist es ihm vor gut zehn Jahren gelungen, den Geheimnissen der Zivilisation von Tiwanaku auf die Spur zu kommen, die bereits 1.000 Jahre vor den Inkas die Andenhochebene, den Altiplano, beherrschte.

"Durch Luftaufnahmen und bei zahlreichen Fahrten durch die Gegend hatten wir diese riesigen alten Konstruktionen entdeckt, ein Art von Wellen im Boden. Wir waren uns ziemlich sicher, daß es sich um landwirtschaftliche Flächen handelte, die in der Tiwanaku-Zeit angelegt worden waren." Das Forscherteam beginnt mit den Ausgrabungen, doch bald stellt sich heraus, daß nur ein Experiment angewandter Archäologie die gewünschten Ergebnisse und Beweise für die Theorien erbringen könne. Die Wissenschaftler versuchen also, die Bauern zu überzeugen, die alten Agrartechniken wieder anzuwenden. Die Bauern reagieren zunächst mit Ablehnung. Niemand hat diese Anbaumethode gekannt, und das Risiko einer Mißernte wollen die Bauern nicht eingehen. Schließlich findet sich die Frauengruppe vom Dorf Lakaya bereit, mitzumachen.

Landschaftsarchitektur "Feld-Kanal-System" nennt man die präkolumbianische Agrartechnik, ein kunstvoll angelegtes System von aufgeschütteten Feldern und Wasserkanälen. Von weitem sieht das Streifenmuster aus Feldstreifen und den dazwischenliegenden Wasserkanälen, die in der Sonne silbern schimmern, aus wie das Werk eines Landschaftsarchitekten. Zwei bis sechs Meter breit und bis zu 200 Metern lang sind die Felder. Die Wasserkanäle dazwischen sind in der Regel halb so breit. Sie werden je nach den Gegebenheiten von Flüssen, von Regenwasser oder vom Grundwasser gespeist. Die Erde, die beim Ausheben der Kanäle anfällt, verwendet man, um die Feldstreifen zu erhöhen. Im ersten Jahr setzten die Bäuerinnen Kartoffeln, später folgten einheimische Getreidearten wie die Quinua. Ursprünglich hat man mit den Feld-Kanal-Systemen Sumpfland an See- und Flußufern kultivierbar gemacht. Eine viel wichtigere Funktion wurde Oswaldo Rivera aber erst im Laufe des Experiments bewußt: "Ich erinnere mich sehr gut, es war der 26. Februar 1987, gegen drei Uhr morgens. Der Himmel war vollkommen klar, ein phantastischer Sternenhimmel. Ein Mitarbeiter kam zu mir und sagte: âOswaldo, das ist das Ende unseres Experimentes'. Es war nämlich eine dieser gefährlichen Frostnächte, die hier auf dem Altiplano völlig unvorhersehbar auftreten und die gesamte Ernte zerstören können. Es war wirklich sehr kalt. Ich ging hinaus zu den Feldern, um die Wärmeschreiber zu kontrollieren. Im Licht der Autoscheinwerfer, die wir eingeschaltet hatten, damit wir nicht in die Wasserkanäle fallen, bemerkte ich, daß über den Feldern eine gewaltige Dampfglocke entstanden war. Wasser aus dem Kanalsystem war verdunstet und hatte diese Nebelschicht gebildet." Am folgenden Tag erfährt Oswaldo Rivera, daß alle Bauern, die ihre Felder nach konventioneller Methode bestellt hatten, fast ihre gesamte Ernte durch den Nachtfrost verloren haben. Die Pflanzen auf den Versuchsfeldern hingegen sind nahezu unversehrt geblieben. Die Nebelschicht hat die Pflanzen vor der kalten Strahlung geschützt. "Dadurch ist uns bewußt geworden, mit wieviel Weisheit die früheren Bewohner von Tiwanaku sich die Natur zunutze gemacht hatten", schwärmt Oswaldo River.

Die erste Ernte brachte ein unglaubliches Ergebnis. Die Frauen von Lakaya ernteten 42,5 Tonnen Kartoffeln pro Hektar. Normalerweise liegen die Hektarerträge auf dem Altiplano bei etwa 2,5 Tonnen. Die extrem hohen Erträge des ersten Versuchsjahrs sind nicht repräsentativ für diese Anbaumethode. Denn es wurde mit sehr gutem Saatgut gearbeitet, und die Felder lagen vorher lange Zeit brach. Mehrjährige Versuchsreihen zeigen aber, daß durchschnittlich mit fünf- bis zehnmal höheren Erträgen gerechnet werden kann, als im konventionellen Anbau. Zu dem wirkungsvollen Frostschutz durch die Nebelschicht kommen noch zwei weitere Faktoren: Einerseits dringt kontinuierlich das warme Wasser der Kanäle in die Feldstreifen ein und erwärmt sie. Dadurch vermindert sich die nächtliche Abkühlung, und die Vegetationsperiode wird deutlich ausgeweitet. Andererseits wachsen in den Kanälen Algen, die wertvolle Nährstoffe speichern. Im Herbst werden die Kanäle gereinigt und die Algen auf die Felder aufgebracht. Auch ohne Kunstdünger werden die Pflanzen so optimal versorgt.

Gemeinschaftsland Noch immer ist nicht ganz geklärt, warum diese Systeme ab dem 11. Jahrhundert nicht mehr betrieben wurden und in Vergessenheit geraten sind. Einige Forscher vermuten, daß eine 100jährige Trockenperiode für den Niedergang von Tiwanaku verantwortlich war, andere sehen die Ursache in einer politischen Krise. Die Zentralgewalt verfiel und die Kleinfürstentümer waren nicht mehr in der Lage, die gewaltigen Bau- und Instandsetzungsarbeiten durchzuführen.

Wenn alle alten Feld-Kanal-Systeme reaktiviert würden, könnte man allein auf dem Altiplano den Kartoffelbedarf für ganz Bolivien decken, haben die Archäologen errechnet. Sie gründeten daher die Stiftung "Winyamarka", die allen interessierten Bauern das Know-how zur Verfügung stellt. Große Probleme beim Anlegen der Feld-Kanal-Systeme bereiten aber die Landreformen der 50er und 60er Jahre, denn der Grund ist heute in kleine Parzellen aufgeteilt. Die alte Methode setzt aber Gemeinschaftsland voraus. So kommt es vor, daß einzelne Bauern die Wiederanlage der Systeme verhindern können. Auf der anderen Seite hält es Oswaldo Rivera aber für einen großen Vorteil, daß sich die Anlage der Felder nur gemeinschaftlich bewerkstelligen läßt. Denn das stärkt die Landgemeinden, und die jungen leistungsfähigen Arbeitskräfte, die sonst die ersten sind, die in die Stadt ziehen, werden nun wieder auf dem Land gebraucht und finden hier auch eine ökonomische Basis. Vor allem will Die Stiftung "Winyamarka" den Campesinos, die in Jahrhunderten der Unterdrückung und Armut vielfach ihren Stolz und ihre Würde verloren haben, zu neuem Selbstbewußtsein verhelfen. "Uns geht es darum, den Bauern zu vermitteln, daß sie die Kinder dieser großen Kultur sind", meint Rivera. "Ihnen wurde ja die Geschichte geraubt. Sie leben neben diesen grandiosen Monumenten von Tiwanaku und wissen nichts darüber. Wir wollen erreichen, daß sie ihren Stolz zurückgewinnen."

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