Architektur, die mit uns kommuniziert

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Das ÖAMTC-Gebäude an der Südosttangente, die "Werxkuchl" der Wiener Netze am historischen Wasserturm: Die beiden Gebäude von Pichler & Traupmann Architekten sind im Rahmen von OPEN HOUSE Wien auch von innen zu besichtigen.

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Das ÖAMTC-Gebäude an der Südosttangente, die "Werxkuchl" der Wiener Netze am historischen Wasserturm: Die beiden Gebäude von Pichler & Traupmann Architekten sind im Rahmen von OPEN HOUSE Wien auch von innen zu besichtigen.

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Unübersehbar thront die ÖAMTC-Zentrale an der Südosttangente, der mit etwa 170.000 Fahrzeugen pro Tag meistbefahrenen Straße Österreichs. Eigentlich ideal für das Headquarter eines Mobilitätsclubs, noch dazu für den größten des Landes. Vom Strahlkraftpotential und der automobilen Erreichbarkeit her Ja. Vom Standpunkt eines hochwertigen Arbeitsplatzes her eher Nein. "Städtebaulich war die Situation schwierig", so Christoph Pichler von pxt -Pichler & Traupmann Architekten, die 2013 im Wettbewerb für das Projekt siegten. "Uns war klar: Die Büros und Konferenzräume dürfen weder unter, noch an der Tangente liegen."- Dort ordneten pxt offene Parkdecks an.

Perfekter Werbeträger

Der Autobahn zeigt die Zentrale, die man optisch von jeder Perspektive aus als reine Wucht bezeichnen kann, eine runde Fassade aus Glas und Stahl mit schrägen, dynamischen Streifen, die nachts signalgelb leuchten. Dazu der weiße Schriftzug ÖAMTC. Als Krönung überragt die Untersicht des Heliport die oberste Gebäudekante. Ein starkes, von Technik und Fortschritt getragenes Bild. "Eine Landmark zu schaffen, war schon auch intendiert, entscheidend aber war das Gesamtkonvolut: Anspruch und Selbstverständnis des ÖAMTC in einem Raumgebilde auszudrücken", so pxt. Die Fassade umhüllt ein höchst komplexes Gebäude. "Das Programm war extrem vielschichtig: Es reicht von der Parkgarage über die Servicewerkstatt, Büros für 800 Mitarbeiter bis zum Heliport am Dach", erzählt Johann Traupmann. "Wir haben all das in ein Raumkonstrukt gegossen, in dem die unterschiedlichen Funktionsbereiche zusammenwirken."

Die ÖAMTC-Zentrale besteht aus einem Sockelbauwerk, auf dem ein sternförmiger Baukörper mit fünf fingerartigen Bürotrakten ruht, deren Enden wie Speichen auf den Ring zulaufen, dessen Fassade sie so bildmächtig umfasst und verbindet. Außen gelegen, von einer Stahl-Glashaut umhüllt, dient der Ring als Fluchtweg im Brandfall und nimmt auch die Fluchtstiegen auf: Dadurch sind innen keine Treppenkerne mehr nötig. Außerdem ist die Fassade auch Schallschutz. Alle Bauteile sind in der Mitte durch ein haushohes, spektakuläres Atrium verbunden. Die Idee, die Funktionen schichtenweise auf der räumlich vielfältigen, zentralen Vertikalachse des Atriums aufeinander zu stapeln, machte diesen Entwurf auch höchst ökonomisch.

Back to the roots

Hufeisenförmig gruppieren sich an der Basis 19 Reparatur-und Prüfstationen um das Atrium. Wie von einer Kanzel kann man vom Erdgeschoß mit Empfangspult, Service-Zonen und Shop des ÖAMTC in die Werkstatt blicken. Eine ausladende Treppe führt in den ersten Stock zu den Konferenzräumen, spektakulär ragt der größte über der Zufahrt aus.

Das Atrium zeigt sich hier auf der Ebene, wo die Fußgänger von der U-Bahnstation Erdberg unter der auskragenden Untersicht des Call-Centers herein schlüpfen, erstmals in ganzer Pracht: 26 Meter hoch, mit weißen, umlaufenden Brüstungen, schrägen Treppenläufen zwischen den Ebenen und einem weit ausschwingenden Oberlicht präsentiert es sich als futuristische Bühne für alltägliche Interaktion.

Die weiße Säule mit dem Lift-Kern in der Mitte designten Nofrontiere als Data-Spine: Ihre LED-Displays zeigen ständig wechselnde Echtzeit-Infos in diversen Farbverläufen. Dank Akustikputz ist die Atmosphäre ruhig, immer wieder sieht man Menschen an der Brüstung lehnen, die Cafeteria "Chassis" ist gut besucht. "Das Atrium funktioniert als Treffpunkt sehr gut", freuen sich pxt.

Auch vor dem Call-Center im zweiten Stock hängen Screens mit Infos: 577 Pannenhilfen gab es am 30. August um 12:29 bereits. Die Anzahl der Anrufe seit 2017 betrug zu diesem Zeitpunkt 1.574.958. "Wir haben für jede Funktion eine eigene, neue Lösung entwickelt", so pxt. Die Kantine erweitert sich zur windgeschützten Terrasse im Schatten der Autobahn, die Büros liegen in den fünf Fingern der darüberliegenden Geschoße. Sie laufen sternförmig auf den äußeren Fluchtwegring zu: Dieser ist noch offen und würde bei einer Erweiterung um zwei Finger zum Kreis ergänzt. Der Planungsprozess der Büros erfolgte moderiert mit der Unternehmensberatung M.O.O.CON GmbH. Nach einem Jahr Betrieb ist die Akzeptanz sehr hoch.

Blickt man vom ÖAMTC auf die Stadt, sieht man hinter den vier Gasometern einen historischen Wasserturm aus dem Häusermeer ragen. Dieser steht unter Denkmalschutz - und auf dem Betriebsgelände der Wiener Netze: Er stammt aus der Anfangszeit des Gaswerks Simmering. Auch das Direktionsgebäude aus Backstein steht noch auf dem Areal, wo Gedenksteine an den heldenhaften Tod der Mitarbeiter erinnern, die im Zweiten Weltkrieg das Werk vor der versuchten Sprengung durch die Nazis retteten und so die Versorgung sicherten.

Sonst blieb seither kein Stein am anderen: Die Gasometer wurden zu Wohnungen mit Mall, Studentenheim und Konzerthalle umgebaut, auch der Wasserturm ist entkernt, die Energieversorgung umstrukturiert: 2013 wurden alle Netzgesellschaften, die Gas-, Strom-,Wärme- und Telekommunikationsnetze betreiben, zur Wiener Netze GmbH zusammengefasst. Damit war die Belegschaft auf rund 2300 Mitarbeiter angewachsen.

Auch diesen Wettbewerb für die neue Kantine beim Wasserturm gewannen Pichler & Traupmann: Sie entwarfen ein eingeschoßiges Gebäude, das sich elegant und dezent um den Wasserturm wickelt. 130 Meter lang, gleitet es geradelinig hinter dem Baudenkmal vorbei, um vorne leicht facettiert, an verschiedenen Seiten zugespitzt sein Umfeld optimal zu gestalten. In Richtung Wasserturm wird es niederer und lenkt so den Blick. Seine auberginefarbige Fassade korrespondiert mit dem Backstein, drei Eingänge hat das geknickte Haus. "Wir wollten, dass man von allen Seiten kommen kann", so pxt. Ein langes Fensterband erhellt den großen Saal, Akustikvlies und Holzlamellen an der Decke schaffen eine angenehme Atmosphäre. Ab elf Uhr mittags wird die "Werxkuchl" gestürmt. "In der neuen Werksküche treffen Mitarbeiter aus allen fusionierten Unternehmen zusammen. Es wird gegessen, geredet, man tauscht sich aus und lernt einander kennen", bringt es Roland Berger, Prokurist der Wiener Netze, auf den Punkt. "Die neue Kantine trägt so wesentlich zum Einheitsgefühl bei."

Das Denkmal einbeziehen

An der Rückseite der "Werxkuchl" erfolgt die Zulieferung und befindet sich die Gastro-Küche, wo täglich rund 30 Personen bis zu 800 Essen zubereiten. "Wir kochen wie zu Hause, ohne Glutamat, vier verschiedene Menüs", sagt Bernhard Engel, der Koch, und lädt die Architekten sofort zum Essen. "Ich war bei jeder Sitzung dabei, ich bin sehr zufrieden."

Die Küche wird von einem Oberlicht erhellt und erweitert sich in der Mitte zur sogenannten "Freeflow"-Zone, wo man sich beim offenen Salatbuffet bedienen kann. Sie definiert den Übergang zwischen dem großen Speisesaal und der kleineren Cafeteria, deren langsam abfallendes Dach gelassen auf den Wasserturm zuläuft: Dieser Raum erweist dem historischen Denkmal seine besondere Referenz. Seine gesamte Längsseite besteht aus einem leicht geneigten, verglasten Stahltragwerk, durch das die Sonne tief einfällt und einen spektakulären Blick auf den Wasserturm frei gibt. Sie holt ihn gleichsam herein. Vor dieser fulminanten Schaufassade breitet sich auch draußen unter Sonnensegeln ein attraktiver Freiraum aus, dahinter schmiegt sich ein schmaler Raum zwischen Rückwand und Baudenkmal: Er würde sich perfekt als Foyer für Events im Wasserturm eignen, der neu genutzt werden soll. Folgt man der Flucht der "Werxkuchl", holt sie visuell die Gasometer zu ihren Wurzeln zurück.

OPEN HOUSE

Wien Am 9. und 10. September stehen in Wien 65 Gebäude offen, die teilweise auch mit Führung besichtigt werden können. www.openhousewien.at

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