Der Standortvorteil ist zum Nachteil geworden

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Durch den Gehaltsunterschied werden dem Osten die besten Kräfte entzogen, die er aber gerade im Kampf gegen den Rassismus brauchen könnte.

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Durch den Gehaltsunterschied werden dem Osten die besten Kräfte entzogen, die er aber gerade im Kampf gegen den Rassismus brauchen könnte.

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Kürzlich reiste Bundeskanzler Gerhard Schröder durch die neuen Bundesländer. Im Vorfeld des Zehnten Jahrestags der deutsch-deutschen Vereinigung verbreitete der Chef der Nation Interesse und Zuversicht. Die Menschen in den von Medien- oder Politikeraufmerksamkeit nicht verwöhnten ostdeutschen Provinzstädten nehmen jede Zuwendung dankbar an. Alles wäre eitel Vereinigungs-Sonnenschein, wäre die Reise nicht von den rassistischen Gewalttaten überschattet gewesen.(Obwohl der Bundeskanzler die Gelegenheit nutzte, sich klar zu äußern. Den Nazis wurde "Eins auf die Mütze!" angekündigt. Das Problem bleibt, wer wann einen als "Nazi" definiert.)

Leider ist der Osten wirklich anfälliger für Rassismus und Rechtsradikalismus. Kurzatmige Programme dagegen haben wenig Sinn, wenn langfristige des grenzüberschreitenden oder auch nur des deutsch-deutschen Schüleraustausches immer schwerer zu finanzieren sind. Nur Bildungsarbeit, die zu positiven Erlebnisschüben führt, kann Lust auf das Andere, Fremde, auf Vielfalt und Pluralismus wecken. Und etwas gegen dumpfes Denken und Sehnsucht nach der Diktatur bewirken.

Es herrscht im Westen eine verständliche Unlust über die anhaltende Notwendigkeit, den Ostteil Deutschlands finanziell zu fördern. Doch sie verwechselt oft Ursachen und Wirkung und vergisst, wohin Gelder nicht selten zurückfließen. Die DDR ist der Testfall für die Integration des ehemals realsozialistischen Europas. Die Alternative zur Vereinigung mit ihr wäre der Krieg gewesen, in den ein wirtschaftlich hoffnungslos dahindümpelnder Ostblock sich irgendwann hineinmanövriert hätte. Entweder der Osten heute wird Teil der westlichen Wertegesellschaft, oder er produziert uns Probleme, die jederzeit sehr viel mehr kosten können als aufwendige Wirtschaftsförderungen. Die deutsch-deutsche Vereinigung ist in diesem Sinne Teil der europäischen Einigung. Da hat die Besuchsreise des Bundeskanzlers negative Entwicklungen leider nicht gestoppt. Die von ihm wiederholte Weigerung, Ostgehälter im öffentlichen Dienst den Westgehältern anzugleichen, führt zu einer verschärften Wanderungsbewegung aus dem Osten in den Westen.

In der Wirtschaft ist das ähnlich. Fähige Leute wandern in die alten Bundesländer ab. Der vermeintliche Standortvorteil Ost (niedrigere Lohnkosten) gerät zum Standortnachteil. Oder nehmen wir Berlin. Da drängen jüngere, engagierte Lehrer Ostberlins auf die besser bezahlten Stellen im Westteil der Stadt. In Ostberlin gibt es Lehrerüberschuss, in Westberlin Lehrermangel. Einige hundert werden so in nächster Zeit versetzt. Selbst wenn die Westwilligen nur mehr Geld wollten, hat dies Auswirkungen über ihr Gehalt hinaus. Den neuen Bundesländern werden die Menschen entzogen, die ein besonders neugieriges und positives Verhältnis zur neuen Westgesellschaft haben. Hier lässt die Regierung jeden Plan zum Fall der innerdeutschen Tarifgrenze vermissen. Wenn der nicht finanzierbar sein sollte, müssten eben alle Beamten auf etwas verzichten. 98 Prozent Gehalt für jedermann und jede Frau wären eine Alternative.

Oder statt ab und zu über die Vermögenssteuer zu spekulieren, könnte über eine einmalige finanzielle Abgabe gesprochen werden, die die Staatsentschuldung der Bundesrepublik zum Ziel hätte. Wie 1949 der Lastenausgleich bei der Einführung der D-Mark. Die aktuellen Staatsschulden sind durch die Diskussion um die Erlöse aus dem Verkauf der Mobilfunklizenzen noch im Gedächtnis. So könnten die jährlich gezahlten Zinsen des Staates für verstärkte Bildungsarbeit, dringend notwendige Schul- und Hochschulreformen und die Förderung vernachlässigter Gegenden Deutschlands (in West und Ost) verwendet werden.

Und für eine verbesserte Integration von zuwandernden Nicht-Deutschen. Das wäre ein Lastenausgleich zur Sicherung der demokratischen Grundlagen. Die sind momentan nicht ernsthaft in Gefahr. Wäre das der Fall, würde es für finanzielle Lösungen zu spät sein.

Der Autor ist Ex-Dissident und Schriftsteller und lebt in Berlin. Die Neuausgabe seines gerade erschienenen Erzählungsbandes "Sisyphos" handelt von deutsch-deutschen Problemen.

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