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Aus religioser Stromu

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Bemerkenswerter ist, daß Volksbildungsbewegungen darauf ausgehen, ihre Ausgangsposition des sozialen Gruppeninteresses zu sprengen, und damit über den Pragmatismus ständischer Einstellung hinauswachsen. Christian Flor, eine führende Gestalt der dänischen Gründerzeit, betrachtet seine Bildungspläne „nicht so sehr im Hinblick auf ihre (der Bauern und Bürger) eigene Wirtschaft und Tätigkeit, als vielmehr im Hinblick auf ihre Stellung als Söhne des Landes und Bürger des Staates“. Und Anders Stephansen wendet sich mit viel drastischeren Worten, aber im selben Sinn, an die Bauern.

Die stärkste Dynamik erwuchs der dänischen Volksbildungsbewegung jedoch aus einer religiösen Strömung, die wir auch in England beobachten können und deren Träger das Bauernvolk selbst war. Bäuerliche Laienprediger durchwanderten Anfang des 19. Jahrhunderts das Land und hielten in den Bauernstuben ihre Vorträge, deren Inhalt sich nicht nur gegen die Aufklärungstheologie des 18. Jahrhunderts, sondern auch gegen einen Punkt der lutherischen Lehre selbst wandte: daß nämlich „im gefallenen Menschen nicht das geringste Gute, so dürftig dasselbe auch gedacht werden möge, zurückgeblieben sei“, „daß die verdorbene Natur aus sich und ihren Kräften vor Gott nur sündigen könne“ und „daß der gefallene Mensch ganz böse sei“.

Es ist auffallend, daß ungefähr zur selben Zeit, als aus dem evangelischen Glaubensbewußtsein dänischer Bauern die Opposition gegen diese lutherischen Thesen hervorbrach, in Deutschland J. A. Möhler mit der milden Klarheit seines bewundernswert unterscheidenden Geistes an seiner „Symbolik“ arbeitete, die er vermutlich zwischen 1827 und 1829 begonnen hat und die ihn bis zu seinem Tode, 1838, beschäftigte. Möhler hat nachgewiesen, daß Luther den adamitischen Urständ des Menschen als den natürlicher, nicht übernatürlicher, Gottgefälligkeit betrachtet hat, der durch den Sündenfall radikal korrumpiert worden sei, während die Lehre Robert Bellarmins die Unterscheidung zwischen dem Imago- und dem Simüttudo-Begriff machte: Der Mensch als imago Dei, als Bild Gottes, ist es der Natur des Geistes und Willens nach, die nur von Gott allein gemacht werden konnten; die similitudo aber, die Gottähnlichkeit, die in der Tugend und Bewährung des Menschen besteht, wird auch vom Menschen mit dem Beistand Gottes vollendet. Nach dieser Lehre gehört also das Bild Gottes, das auch nach dem Sündenfall unversehrt bleibt, zur Natur des Menschen, und die Gottebenbildlichkeit zu seinen Tugenden. Daher hat Adam, indem er sündigte, nicht das Bild Gottes, aber die Ebenbildlichkeit verloren. Nach Luther aber ist die Ursünde der gänzliche Verlust der im Paradies geschaffenen Urgerechtigkeit und die Preisgabe oder Beraubung des Gottesbildes selbst. Aus dieser Auffassung ergibt sich jene pessimistische Beurteilung der menschlichen Natur, die zu dem Glauben führte, daß Einsicht, Herz und Wille des nicht wiedergeborenen Menschen in geistlichen und göttlichen Dingen nichts erkennen, glauben, umfangen, denken, beginnen, vollenden könne, daß der Mensch zum Denken wie zum Tun des Guten verderbt und tot sei: so zwar, daß in der Natur des Menschen nach dem Sündenfall und vor der Wiederherstellung nicht ein Funke geistiger Kräfte übriggeblieben sei. Luther wollte als Glaubenssatz festgehalten wissen, daß der Mensch keine Freiheit besitze, daß alles (vermeintlich) freie Handeln nur auf einem Schein beruhe, daß eine unabweisbare göttliche Notwendigkeit alles beherrsche und alles menschliche Tun im Grunde nur Gottestat sei. „Was immer von uns geschieht, geschieht nicht aus freiem Willen, sondern aus reiner Notwendigkeit.“

Wir sehen, daß die geschilderte geistliche Bewegung, die aus dem dänischen Volk kam, erst die Voraussetzung für den optimistischen pädagogischen Ansatz schuf, der die Tätigkeit der ersten Volkshochschulzeit kennzeichnet. Denn die Erkenntnis des hinter aller Gebrechlichkeit und Schwäche guten Wesenskerns des Menschen und seiner Fähigkeit, den freien Willen zu betätigen, um mit der Gnade Gottes mitzuwirken, ist unerläßliche Voraussetzung des religiös motivierten pädagogischen Wagnisses.

Diese Durchbrüche aus dem Glaubensgeist schlichter Menschen machten im dänischen Volk religiöse Kräfte frei, die der Gründerzeit ihrer Volkshochschulen mächtigen Antrieb verliehen. Das Ziel dieser Bewegung war „die christliche Erweckung“, und die Volkshochschule der „Inneren Mission“ verdankt ihr unmittelbar ihren Ursprung. Christian Kold, von dem Grundtvig sagte, er sei eigentlich der erste, der den Volkshochschulgedanken im Leben verwirklicht, hatte in seinem Unterricht wenig Plan und Methode. Hatte Blaise Pascal schon im 17. Jahrhundert gesagt, daß die göttlichen Wahrheiten vom Herzen in den Geist eintreten und nicht vom Geist in das Herz, so hat man von Kold gesagt: „Was er wecken will, ist ,das Herz für den Geist', so daß wir die Herzen dem Geistigen öffnen müssen, damit es sich unser als williges Werkzeug bedienen kann zur Förderung dessen, was die Aufgabe unseres Volkes und der gesamten Menschheit ist.“ Von dieser Bewegung war auch der berühmteste Sohn Dänemarks, N. F. S. Grundtvig, erfaßt, der die aus jenem religiösen Grund- und Befreiungserlebnis entbundenen Kräfte auf die Aufgaben des „Volks- und Bürgerlebens“ lenkte, „an dem alle teilhaben sollen, und das überdies als die natürliche Wurzel und Quelle all unseres lebendigen Strebens gelten muß; denn wenn das Leben gering geschätzt und nicht beachtet wird, muß alle andere Aufklärung, schon an und für sich unfruchtbar, für das Volk tödlich und für das Reich schädlich werden“. Das war die Grundthese seiner „Schule des Lebens“, die er der „Schule des Todes“ entgegensetzte, in der „das Leben, ehe es gelebt wird, sich erklären und nach dem Kopf des Gelehrten umschaffen lassen kann und soll“.

Was wir dieser kurz skizzierten Darstellung entnehmen können, ist die Einsicht in die soziale Situationsbestimmtheit jeder Volksbildung; in ihr Übergreifen über den bloßen Versuch, sie pragmatisch zu bewältigen; in ihren originären Durchstoß zu elementar menschlichen Fragestellungen, deren Antwort auch die religiöse sein kann, dann nämlich, wenn ihre unmittelbar erlebte und von ergriffenen Menschen getragene Kraft auch heute geistiges Leben zu erwecken vermag.

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