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Dr. Karl Renners „Vermächtnis an die jungen Sozialisten“

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Der Marxismus ist die Widerspiegelung dessen, was man vereinfachend „Kapitalismus“ nennt. Als Versuch, die Wirklichkeit der Erwerbswirtschaft in der Durchführungsweise des Kapitalismus zu erkennen und zu überwinden, haftet der Marxismus an diesem Kapitalismus. Ohne die kapitalistische Erwerbswirtschaft wäre es nie zum Protest der Sozialisten aller Riten gegen die institutionelle Verletzung des Sittengesetzes im wirtschaftlichen Bereich gekommen. Soweit sich aber die Wirtschaft als „erste Wirklichkeit“, um mit den Worten des Marxismus zu sprechen, wandelt, soweit muß sich auch der Marxismus als besondere Form des Protestes gegen die jeweilige Un-Ordnung verändern.

Karl Renner war sich Zeit seines wissenschaftlichen Schaffens der Notwendigkeit bewußt, den Marxismus davor zu bewahren, daß er lediglich als Summe von Dogmen in sozialistischen Seminaren dargeboten werde (20). Worum es Renner stets ging, war, die Lehrsätze des „Meisters“ an die Wirklichkeit anzupassen, freilich an eine Wirklichkeit in der Schauweise des Marxismus, dieser als eine Methode des Erkennens verstanden.

Auch der vorliegende dritte Band der nachgelassenen Schriften zeigt das leidenschaftliche Bemühen Renners, den Marxismus mit der — seiner — Wirklichkeit zu konfrontieren.

Tn einer Darstellungsform, die sich bewußt zwischen Simplifikation und Akribie der Formulierung bewegt, erweist sich Renner als der marxistische Revisionist in Permanenz. Aber gerade deswegen, weil er sich bemüht, die Fakten einzufangen und systematisch zu deuten, ist er orthodox. In der Art orthodox, daß er gewillt ist, das Wesen der Marxschen Lehre darin zu sehen, daß die Lehre ohne Unterbrechung dem jeweils erkennbaren materiellen Unterbau anzupassen ist. Auf diese Weise wird Marx nach Renner nicht widerlegt, sondern immer wieder neu bestätigt (117). Zudem ist für Marx die Gesellschaft in einem dauernden Wandel. Nur dieser Wandel ist das Bleibende an der Gesellschaft

Im vorliegenden Buch schildert nun Renner den jungen Sozialisten eindringlich und drastisch, was sich in seiner Sicht seit der Proklamation des Kommunistischen Manifestes sozialgeschichtlich begeben hat. Der Prozeß der Selbstaufhebung des Kapitalismus klassischer Prägung wird aus der Vielfalt der Daten ebenso in lapidaren Darstellungen gezeigt wie die konform diesem Prozeß sich vollziehende Machtausweitung der Arbeiterklasse, die sich heute in einem wenn auch labilen sozialen Machtgleichgewicht mit der Klasse der „Kapitalisten“ zeigt. Nirgendwo erweist sich das deutlicher als im Steigen des Reallohnes. Die fremdbestimmte Arbeit wird allmählich entkommerzialisiert und immer mehr als Folge einer progressiven Verstaatlichung des Wirtschaftslebens in „Dienst“ genommen. Das Dienstverhältnis aber ist ethisch überbaut und durch Dekret als eine Art Treueverhältnis ausgewiesen.

Ganz hervorragend sind die wenigen Zeilen über den Funktionswandel des Eigentums. Wohl ist, nach Meinung des Autors, das Eigentum heute noch Rechtstitel, hat aber nicht mehr die dem Titel gemäße ökonomische Funktion. Einer allgemeinen Enteignung kann nun Renner nicht zustimmen; sie sei ein „Gtneralunsinn“ (30). Wofür Renner aber ist, das ist die Uebertragung bestimmter Eigentumsfunktionen (nicht des Eigentumsrechtes) an die Allgemeinheit.

Aber nun einige ergänzende Bemerkungen zum Buch, die im Interesse der Abgrenzung der Positionen notwendig sind.

Karl Renner ist uns in zwei persönlichen Prägungen in Erinnerung: als Präsident der Zweiten Republik, objektiv, über den Parteien stehend. Aber dann ist da noch der andere Dr. Renner, der bekennende marxistische Sozialist, der Tagespolitiker, der aus seinem Gewissen heraus sich zur Parteinahme verpflichtet fühlte. Das nachgelassene Werk ist ein Vermächtnis. Aber nicht ein Vermächtnis des Staatsmannes an seine Landeskinder, sondern an die jungen Sozialisten. Was im folgenden gesagt wird, gilt daher nicht dem großen Oesterreicher, sondern dem Parteipolitiker Renner, mit dem sich offen

Karl Renner, „Wandlungen der modernen Gesellschaft", 3. Band der nachgelassenen Werke. Wien 1933. Verlag der Wiener Volksbuchhandlung. Geb., 228 Seiten, 80 8.

auseinanderzusetzen wohl niemanden in diesem Lande verwehrt sein dürfte.

Vom Standpunkt des Oester- re i c h e r s, für den die Existenz seines Vaterlandes nicht mit 1918 anhebt, ist zu sagen:

Die Bezeichnung der Angehörigen der alten Armee als „habsburgische Soldateska“ ist nach meinem Dafürhalten dem Sprachschatz jener aus dem Osten gekommenen Intellektuellen entnommen, für die Oesterreich, in dessen Innenpolitik sie sich eingemengt haben, nur ein Durchzugsland war. Das Buch wurde offensichtlich geschrieben, während P.enner Bundespräsident war und von Amtsräumen aus, vor deren Fenstern monumentale Symbole von habsburgischer, österreichischer Vergangenheit zeugten, dieses Oesterreich regierte. Würde ein französischer Staatspräsident, auch wenn er ganz links stünde, über die alte französische Armee so geurteilt haben? Auch das heutige Rußland bekennt sich, trotz seines konsequenten Marxismus, zur großen Vergangenheit des Landes. Zudem ist doch ein Parteikollege des Präsidenten General dieser „Soldateska“ gewesen, ohne daß jemals bekanntgeworden wäre, daß er sich dieser Position geschämt hätte.

Vom Standpunkt des Christen ist zu bemerken:

Das öffentliche und private Verhalten des Bundespräsidenten nach dem zweiten Weltkrieg hätte riieht vermuten lassen, daß er zu eben jener Zeit, da er Christen gegenüber ein durchaus aufgeschlossenes Verhalten zur Schau trug, ein Buch schrieb, in derif er auf die Waffensegnung durch „willige“ Priester hinwies (74). Die mannhafte Haltung der Sozialisten zwischen 1938 und 1945 bleibt auch dann unbestritten, wenn bekannt wird, daß ab und zu ein Sozialist den Anschluß (und damit den Nazismus) „gesegnet“ hat. Niemand wird der SPOe den Vorwurf machen, sie verrate die Arbeiterklasse, weil sie zuweilen nach der Parole „Lieber braun als schwarz“ handelte. Wer hätte auch vermutet, daß Dr.. Renner in ders „Priesterkaste“ die Nachfolger von „Zauberern und Wahrsagern“ sah (90), die bestrebt sind, die „Phantasielosen“ und „Naiven“ zu beherrschen. Oder daß er in der Volksdemokratie mit ihrem Einparteienstatut eine Darstellung des Klerus in der modernen Gestalt sah (149). Das Religiöse ist Renner eine Ideologie, eine ökonomische Notwendigkeit (113), wohl aus dem Sein entstanden, das auch das Bewußtsein bestimmt. Das ist schmerzlich enttäuschend.

Vom Standpunkt der Sozialwissenschaft müßte man sagen:

Die Untersuchungen Dr. Renners sind beeindruckend, raumgreifend und bieten eine großartige, wenn auch bewußt einseitige Ueberschau der sozialökonomischen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten. Aber vor einem macht die Untersuchung halt: vor dem Phänomen des demokratischen Sozialismus, sobald er sich an der Macht befindet. Der Marxismus, konstituiert in den Führungsgremien des Staates und der Wirtschaft, ist notwendigerweise ein anderer als der Marxismus der kleinen Leute und in der Opposition. Die Begriffe „bürgerlich“ und „Arbeiterklasse“ sind oft sehr willkürlich gesetzt, ohne Substanz. So hat etwa der Idealtyp des „Bürgers“ im Verlauf der sozialökonomischen Wandlungen immer weniger Inhaltsfülle und wird oft mit den Nichtmarxisten gleichgesetzt. (Die „Zukunft“ untersucht übrigens in einer bemerkenswerten intellektuellen Ehrlichkeit in den letzten Monaten die Frage des „Genossen Direktors“.) Oft und oft wird das Wort „Bürger“ nur mehr als eine politische Etikettierung verwendet.

Gleiches gilt für den dividendenschaufelnden Kapitalisten, der doch heute in Oesterreich beileibe kein vorherrschender Typ in der Wirtschaft ist.

Die,von der Arbeiterkammerzeitung gebrachten Ziffern beweisen das…

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