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Erprobung

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Rotweißrot flatterte es von Fenstern und Dächern. Die Fahnen bauschten und rauschten im Wind sonnig lächelnder Frühlingstage. Wien hatte sein Festkleid angelegt. Fast schien es seiner Ruinen zu vergessen. Hoffnung und Lebenswille leuchteten nach langen schweren Monaten wieder einmal aus den Zügen der Stadt. Die Tage ihrer Befreiung wurden gefeiert. Und diese Erinnerung verschwisterte sich mit dem Gedenken an die befreiende Tat, die zum Eingang dieser Gedenktage die österreichische Volksvertretung gesetzt hatte. Denn es war eine seelische Befreiung, als Regierung und die beiden großen Staatsparteien entgegen den erhobenen Einwendungen an der vom Parlamente einhellig beschlossenen Staatsverfassung festzuhalten erklärten und es ablehnten, bis zum 1.“ Juli, einem Verlangen entsprechend, eine andere Verfassung zu schaffen. Die würdevolle und verantwortungsbewußte Festigkeit, mit der diese Stellung bezogen und das Recht der freigewählten Vertretung des österreichischen Volkes verteidigt wurde, konnte durch die unbegreifliche Hinfälligkeit unterstrichen werden, mit der die äußerste Linke zum ersten Male die gemeinsame Front der demokratischen Parteien verließ und am 12. April plötzlich schwarz nannte, was sie kaum vier Monate zuvor in feierlicher Beschlußfassung einwandfrei als weiß erklärt hatte.

Die Geschichte der österreichischen Demokratie wird“ den 12. April 1946 als denkwürdig verzeichnen. Es genügt, sich vorzustellen, was da sein würde, wenn die großen Parteien in der gewiß schwierigen Lage, in die das Parlament durch die Note des Alliierten Rates versetzt wurde, schwach geworden wären. Dann hätte sich der Zustand ergeben, daß nicht die oberste gesetzgebende Körperschaft im Namen des österreichischen Volkes über die Verfassung, das fundamentale Grundrecht unserer Demokratie, zu beschließen und zu verfügen vermag, sondern nach ihrem Dafürhalten durch Verbote und Sistierungen eine außerhalb der demokratischen Einrichtungen stehende Potenz. Ihr würde ein Recht zukommen, das die geltenden Verfassungsgesetze der Republik nicht einmal für das eigene Staatsoberhaupt kennen. Dann würde in den entscheidenden Bestimmungen über das Gemeinwesen nicht der im Parlament verkörperte Wille des österreichischen Volkes, sondern darüber noch die Macht einer einzigen Stimme einer hohen und respektverdienenden Körperschaft stehen, die aber doch nicht eine österreichische ist. Im Wesen würde dies eine Abdankung der Demokratie darstellen. Dem österreichischen Volke würde dann wohl schwer verständlich gemacht werden können, warum es mit dem Willen der Mächte in einem beispielhaft imposanten Wahlakte eine Volksvertretung gewählt hat, deren Beschlüsse über die Grundlagen des Staates von außenher kraftlos gemadit werden können.

Unser Volk, das zur rechten Stunde von den Mächtigen allein gelassen, den Widerstand seines Sechsmillionen-Staates gegen die Hitlergewalt hur durch das Martyrium und die Blutopfer vieler Tausender seiner Besten offenbaren konnte, hat für jene Gefangenschaft noch nicht seine volle Freiheit einzutauschen vermocht. Es erträgt diese Einschränkung in der Erwägung, daß auf unserem Kontinent das Oberste zu unterst gekehrt worden und es begreiflich ist, daß die mit vielen harten und sorgenvollen Aufgaben beschäftigten vier Mächte mit Bedacht vorgehen und selbst zur Lösung reife Probleme vielleicht nicht isoliert gelöst werden können. Doch wo es um die Grundfeste der Demo-

kratie geht, um die Verfassung und die Verfassungsbeschlüsse der legitimen Volksvertretung, dort würde dulderisches Schweigen gegenüber einer Verkürzung der Lebensbedingungen der Demokratie dem Ernst widersprechen, mit dem wir den Anspruch auf die Freiheit und die Selbständigkeit zu beweisen haben, und einen bleibenden Makel bedeuten.

Wir denken, es war eine Erprobung, die man uns auferlegte. Die österreichische Demokratie hat sie bestanden.

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