Freiheit stirbt mit Sicherheit

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Die Vorratsdatenspeicherung im Auge. Eine Analyse von Roland Spitzlinger.

Je unsicherer das Selbst, desto gigantischer seine Investitionen in Sicherheit", schreibt der deutsche Philosoph und Pädagoge Andreas Tenzer. Doch nicht nur Individuen reagieren auf Bedrohung instinktiv mit erhöhtem Schutzbedürfnis, auch Staaten und supranationale Organisationen beherrschen diesen Reflex. Unter die Räder kommen dabei zunehmend verfassungsmäßig verbürgte Freiheiten, wie die jüngste EG-Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung zeigt.

Salut Big Brother

Unter dem Eindruck der Terroranschläge von London und Madrid verabschiedete die Europäische Union in der Rekordzeit von drei Monaten am 15. März 2006 eine Richtlinie, der zufolge sämtliche EU-Bürger in Zukunft präventiv überwacht werden sollen (siehe Infokasten). Im Gegensatz zur derzeitigen Regelung, wonach staatliche Institutionen nur bei konkretem und fundiertem Verdacht in die Persönlichkeitsrechte der Bürger eingreifen dürfen, steht bei erfolgreicher Umsetzung der Richtlinie in die nationale Gesetzgebung der EU-Mitgliedsstaaten die gesamte EU-Bevölkerung unter Generalverdacht. Das Verhältnis zwischen Staat und Bürger wäre nicht mehr durch grundsätzliches Vertrauen, sondern durch Misstrauen geprägt.

Wurde die europäische Öffentlichkeit zunächst mit dem Argument der terroristischen Bedrohung von der Notwendigkeit der Vorratsdatenspeicherung überzeugt, so gehen die aktuellen Entwürfe der Nationalstaaten zum Teil weit über die vom EU-Parlament ursprünglich genehmigte Regelung hinaus. Tatsächlich nähern sie sich den Vorschlägen der britischen und dänischen Regierung an, die sich von Beginn an für eine möglichst umfassende Überwachung einsetzten. Innenminister Günther Platter etwa verlangt nun den Zugriff auf die Daten nicht nur zur Bekämpfung terroristischer Aktivitäten, sondern auch bereits zur Aufklärung all jener Vergehen, die mit mehr als einem Jahr Freiheitsentzug bestraft werden. In Schweden soll es Telekommunikationsunternehmen ermöglicht werden, die gesammelten Daten kommerziell zu verwerten. Unternehmen wären damit in der Lage, noch detailliertere Kundenprofile zu erstellen und ihre Werbeaktivitäten entsprechend darauf abzustimmen.

Liberté passé

Frankreich wiederum weitete die Datenspeicherpflicht bereits auf sämtliche Anbieter von Kommunikationsdiensten aus. Damit sind nun auch Fast-Food-Ketten, Hotels, gemeinnützige Organisationen und Privatpersonen, die einen öffentlichen Zugang zum Internet anbieten, gezwungen, die Verbindungsdaten zu protokollieren. Der aktuelle dänische Entwurf verpflichtet die Unternehmen sogar zur Speicherung des Ursprungs, der Zeit und des Ziels jedes einzelnen Datenpaketes. Durch die Maßnahme dürften die Kosten der Überwachung weiter steigen. Zudem kommt die Regelung einer vollständigen Aufhebung des Kommunikations-Geheimnisses sehr nahe. In Deutschland kämpft wiederum die Musikindustrie um den Zugriff auf die Verbindungsdaten, wäre sie damit doch in der Lage, auch kleinere Urheberrechtsverletzungen effektiv zu bekämpfen.

Die Beispiele zeigen, dass der ursprüngliche Grund für die Aufgabe grundlegender persönlicher Freiheiten längst nicht mehr im Kampf gegen den Terrorismus zu suchen ist. Mittlerweile beherrschen vorwiegend wirtschaftliche Interessen das Feld. Doch sind diese die Aufgabe grundlegender Freiheiten wert?

Datenschützer und Menschenrechtsorganisationen kritisieren die Richtlinie hart und verweisen auf deren Unvereinbarkeit mit der völkerrechtlich verbindlichen Europäischen Menschenrechtskonvention. Darin heißt es unter Artikel acht: "Jede Person hat das Recht auf Achtung des Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz." Nach einhelliger Meinung von Rechtsexperten wie etwa dem Europäischen Zentrum für E-Commerce und Internetrecht muss ein derart starker Eingriff, wie sie die EU-Richtlinie darstellt, wohlbegründet und verhältnismäßig sein. Sie ist daher nur gerechtfertigt, wenn dadurch "schwere Straftaten" verhindert werden können. Eben diese Bedingung ist jedoch nicht erfüllt.

Tatsächlich kann die Vorratsdatenspeicherung leicht umgangen werden. Die Verwendung von Wertkartenhandys oder die Nutzung von E-Mail-Anbietern mit Firmensitz außerhalb der Europäischen Union ist dafür vollkommen ausreichend. Darüber hinaus bieten sich Telefongespräche über das Internet an, da sie technisch äußerst schwer zu überwachen sind. Personen, die völlig sichergehen möchten, können ihre E-Mails zudem jederzeit von privaten Mailservern aus verschicken, sich über anonyme WLAN-Hotspots (öffentlich zugängliche Funknetze) in das Internet einwählen oder den Mailverkehr über das nächstgelegene Internetcafé abwickeln. An eine vollständige Überwachung auch nichtkommerzieller Telekommunikationsanbieter ist laut Justizministerin Maria Berger schließlich in Österreich ebenso wenig gedacht, wie die lückenlose Überwachung öffentlicher Telefonzellen. Fügt man die Möglichkeit der Manipulation einer Kommunikationsverbindung unbedarfter Bürger hinzu, so steht eines fest: Für Kriminelle wird es trotz strenger Überwachung auch weiterhin sehr einfach sein, eine Entdeckung zu verhindern. Selbstmordattentäter dürfte die Tatsache, dass Polizeibeamte ihre Verbindungsdaten postum analysieren ohnehin nicht von ihren Vorhaben abbringen. Das Ergebnis wird der Aussage des Präsidenten des Dachverbands europäischer Polizeigewerkschafter sehr nahe kommen: "Ein enormer Aufwand mit wenig mehr Wirkung auf Kriminelle und Terroristen, als sie etwas zu verärgern."

Adieu absolute Sicherheit

Doch wenn eine lückenlose Überwachung die Sicherheit nicht erhöht und darüber hinaus einer offenen Gesellschaft zutiefst widerspricht, dann müssen sich der Staat und die Bürger vom Ideal einer absoluten Sicherheit verabschieden. Stärkere Überwachung führt in so einem Szenario lediglich zu weniger Freiheit, verstärkter Kampf gegen den Terror wird zum Kampf gegen die Bürger selbst. Richard Johnson, Diplomat im 18. Jahrhundert, wies auf die Gefahren einer solchen Entwicklung hin: "Diejenigen, die ihre Freiheit zugunsten der Sicherheit aufgeben, werden am Ende keines von beiden haben - und verdienen es auch nicht." Dramatischer brachte es Aristoteles vor über 2000 Jahren auf den Punkt: "Wer Sicherheit der Freiheit vorzieht, ist zu Recht ein Sklave." Wie weit es tatsächlich kommt, wird die Zukunft weisen.

Der Autor ist freier Journalist.

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