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Aggressives Verhalten ist verpönt, doch Aggressionen sind eine Triebfeder des Menschen. Im Umgang mit ihnen geht es wengier um das Prinzip als um die angemessene Dosierung.

"Die Aggression ist das Pendant der Depression“, so Dr. Edmond Richter, deutscher Gestalttherapeut, Seminarleiter und Managementtrainer. Keine Frage, dieses zweifelsfrei gewagte Argument ist durchaus diskussionswürdig. In seiner Kernaussage untermauert es jedoch auf nachdrückliche Weise den positiven, förderlichen Aspekt von, in diesem Kontext wesentlich, "kontrollierter“ Aggression. Denn anders als es allgemeine Assoziationsaspekte vermuten ließen, steckt im Begriff "Aggression“ nicht nur etwas Zerstörerisches und Schlechtes, sondern auch etwas Befreiendes, ja durchaus etwas Lebenserhaltendes. Zugegeben, die positive Bewertung der Aggression als Ausdruck einer emotionalen Reaktion, respektive als zielgerechtete Aktion, mutet angesichts des in diesem Zusammenhang oft resultierenden Leids provokant an. Aggression bedeutet jedoch nicht zwingend Gewaltbereitschaft. Anders können Aggressionen als Ventil dienen und auf diese Weise erleichternd wirken. Zudem erfüllen sie einen wesentlichen, evolutionären Selbsterhaltungszweck.

Aggression als Fundament des Lebens

Neben Hunger, Sexualität und Flucht-angst ist Aggression einer der vier Instinkte, die das Verhalten eines Lebewesens festlegen und orientieren. Umso weniger überraschte die Schlussfolgerung der Wissenschaft, die Aggression als lebenserhaltend einstufte und diese Erkenntnis als Ausgangshypothese für ein Experiment mit Ratten festlegte. Wissenschaftler entfernten zu diesem Zwecke das Aggressionszentrum aus dem Gehirn der Tiere. Das erstaunliche Ergebnis: Der Fortpflanzungstrieb der Ratten versiegte, die Tiere bewegten sich nicht mehr und nahmen kein Futter mehr zu sich. Die völlige Teilnahmslosigkeit und das Verschwinden des Aktivitätsdranges, führten schließlich dazu, dass die Tiere verendeten. Man kann also davon ausgehen, dass ein gewisses Maß an Aggressionen das Leben erst ermöglicht. "Die positive Seite von Aggression ist das, was uns dazu bewegt, aktiv zu werden, uns Nahrung zu besorgen, ein Haus zu bauen, Sexualität zu haben und unsere Kinder zu schützen“, sagt Dr. Edmond Richter. Interessant ist auch sein Umkehrschluss: Wie eingangs bereits erwähnt, liegt die Ursache für Depression Richters Ansicht nach zu 80 Prozent in blockierter oder gebremster Aggression.

"In einem Vortrag vor Wirtschaftsjunioren habe ich das Profil von Gewalttätern spaßeshalber auf Manager übertragen. Die Zuhörer haben das nicht bemerkt“, berichtet Jens Weidner, Kriminologe und Erziehungswissenschaftler an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. "Gewalttäter mögen angsteinflößende Strategien - Führungskräfte bauen im Wettbewerb auch Drohszenarien auf. Und beide benutzen Rechtfertigungsstrategien.“ Obgleich der Vergleich in punkto Kontinuität, Disziplin und Know-how etwas hinkt, kommt darin eine wesentliche Erkenntnis zutage: Aggressionen gehören zur biologischen Grundausstattung des Menschen. Je nach individueller Persönlichkeitsstruktur begleiten sie das menschliche Individuum nicht nur im Berufs- und Alltagsleben, sondern steuern darüber hinaus auch den natürlichen Entwicklungsweg vom Kleinkind zum Erwachsenen. Ohne Aggression wäre keine Autonomie möglich. "Würden unsere Kinder mit den ersten Misserfolgen und Schmerzen beim Laufenlernen, ihre Bemühungen einstellen, statt immer mal wieder auf den Po zu fallen, der aufrechte Gang wäre uns Menschen unbekannt“, sagt die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Gabriele Enders vom Kölner Institut für Kindertherapie. Eine zentrale Rolle erfüllen Aggressionen auch im Sport. Blickt man in das Gesicht von am Start stehenden Skiabfahrtsläufern, kann man deren Aggressionspotenzial, das von Tatendrang und Ehrgeiz zeugt, klar erkennen. "Wenn man Sportler fragt, warum es heute mit der Leistung nicht so geklappt hat, dann kommt oft ein: "Ich war zu wenig aggressiv.“ Und meist ist das auch von außen sichtbar. Beispielsweise im Fußball. Die Spieler zeigen dann zu wenig Laufbereitschaft, sind immer etwas zu spät beim Ball usw.“, nennt Alexander Pfeifer, Sportpsychologe in Wien ein weiteres, prädestiniertes Beispiel für die Bedeutung von Aggressionen. Aus seiner Erfahrung weiß er: "Das Wort, Aggression‘ wird im Sport wirklich fast nur positiv verwendet. Eigentlich interessant: Offensichtlich wird im Sport mit Aggressivität, die Bereitschaft alles zu geben, verbunden.“

Das Leben aktiv "in Angriff nehmen“

Die eigene Willenskraft und Aggression stehen also in unmittelbarer Wechselwirkung zueinander. Dies kommt nicht von ungefähr, denn das Wort Aggression stammt vom lateinischen Begriff "agredere“ ab und bedeutet "etwas in Angriff nehmen, sich an etwas heranwagen.“

Vom Ursprung her bezeichnet die Aggression eine positive Kraft, die nicht nur auf körperlicher, sondern auch auf mentaler Ebene Ausdruck findet. Das natürliche Aggressionspotenzial nutzen, bedeutet, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen und im entscheidenden Augenblick "stopp“ zu sagen. "Nicht offen gelebte Aggression taucht in den Untergrund ab, in Form von Ironie und Abwertung“, gibt Donate Oerke, Diplom-Pädagogin und Trainerin für Aggressions- und Konfliktarbeit am Osterberg-Institut in Deutschland, zu bedenken. Oerke kleidet diesen Umstand in eine ausdrucksstarke Metapher: "Viele kleben den täglichen kleinen Ärger ins Rabattmarkenheftchen. Ist dies voll, geben wir uns unbewusst die Erlaubnis zu explodieren - meist zur falschen Zeit, am falschen Ort, beim falschen Gegenüber, mit der falschen Portion Ärger.“

Oerke zufolge wandelt sich Aggression in Autoaggressionen - in Aggression gegen sich selber, wenn diese kein Ventil findet.

Was lässt sich also unstrittig über Aggressionen sagen? Dass sie auf verschiedenen Ebenen des täglichen Lebens förderlich und heilsam sind. Auf der persönlichen Ebene entfalten sich dadurch die Lebensfreude, der Selbstwert und die Gesundheit. Auf der Beziehungsebene wird durch Aggression Nähe und Intimität erschaffen. Und auf der gesellschaftlichen Ebene entsteht Engagement und Gerechtigkeit. Wie bei vielen Dingen entscheiden jedoch Ausdruck und Dosierung über den tatsächlichen Wirkungsgrad. Der Blick ins eigene "Rabattmarkenheftchen“ kann dienlich sein, sich dessen bewusst zu werden.

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