"Ein Container für schwierige Gefühle"

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Psychoanalytiker Rainer Gross über Angst-ausströmende Politiker und die emotionale Gemengelage angesichts der Flüchtlingskrise.

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Psychoanalytiker Rainer Gross über Angst-ausströmende Politiker und die emotionale Gemengelage angesichts der Flüchtlingskrise.

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Mit seinem Buch "Angst bei der Arbeit - Angst um die Arbeit" (2015) hat sich Rainer Gross dem Unbehagen in der neuen Arbeitswelt gewidmet. Die FURCHE hat den Psychoanalytiker gefragt, wie nun die emotionalen Reaktionen auf die Flüchtlingskrise zu deuten sind.

DIE FURCHE: Negative Gefühle wie Angst führen dazu, dass sich unser geistiger Fokus verengt; Flexibilität und Kreativität nehmen ab. Ein soziales Klima der Angst ist also nicht gerade ideal, um die aktuellen Herausforderungen anzupacken ...

Rainer Gross: Was der Volksmund mit dem schönen Ausdruck "Angst macht dumm" zusammenfasst. Oder wie der französische Dichter Paul Valéry gesagt hat: "Angst ist eine Degeneration der Wahrnehmung". Je mehr Angst wir haben, desto eingeengter sind wir auch in unseren Möglichkeiten damit umzugehen. Es ist ein selbstverstärkendes System.

DIE FURCHE: In unserer Urgeschichte haben sich drei klassische Angstreaktionen im Nervensystem eingebrannt: Kampf, Flucht und Angststarre. Was bedeutet das für heutige Verhältnisse?

Gross: In den meisten Fällen, in denen wir Angst haben, können wir weder kämpfen noch flüchten. Deshalb kommt es oft zu einer seltsamen Mischung aus Aggression und Erstarrung. Das gilt dann auch für den Übergang von individuellen zu sozialen Ängsten. Wie alle starken Emotionen ist Angst ansteckend. Wenn ich sehe, dass alle anderen voller Angst und Panik sind, verstärkt sich auch bei mir das Angstgefühl. Sehe ich hingegen Szenen der Hilfsbereitschaft wie kürzlich am Westbahnhof, werde ich meine Empathie stärker wahrnehmen. Diese Mechanismen können durch Bilder, Metaphern und soziale Einflüsse massiv verstärkt werden. Politisch gesehen ist es einfacher, eine "Willkommenskultur" hochzufahren als Angst abzubauen.

DIE FURCHE: Hinter den politischen Auseinandersetzungen in der Flüchtlingskrise läuft demnach ein unterschwelliger Kampf der Bilder und Symbole?

Gross: Schon Sigmund Freud hat gesagt, dass das Denken in Bildern älter ist und dem Unbewussten näher als das Denken in Worten. Es geht darum, wer welche Bilder in die Seelen pflanzt: Denn es macht einen Unterschied, ob man angesichts der Flüchtlingsströme sagt, da rennen Menschen um ihr Leben, oder ob man das als "Flüchtlings-Tsunami" bezeichnet.

DIE FURCHE: Inwiefern werden aktuelle Ängste in der Bevölkerung jetzt noch verstärkt?

Gross: Das Flüchtlingsthema ist derzeit wie eine Art Container für viele Gefühle, die wir nur schwer in uns selbst aushalten: Angst und Aggression sowie, übergeordnet, Schwäche und Ohnmacht. Die aktuelle Situation mit unkontrollierten Flüchtlingsströmen bietet eine wunderbare Möglichkeit, diese Gefühle nach außen zu verlagern und an diesem Thema auszuagieren, weit genug entfernt vom eigenen Leben. Wie die Erfahrungen aus den neuen deutschen Bundesländern zeigen, gibt es das seltsame Phänomen eines "Rassismus ohne Fremde". Sobald man aber Asylwerber persönlich kennen lernt, wenn uns Menschen mit ihren Geschichten präsentiert werden, schaut die Welt schon anders aus. Denn Geschichten sind immer auch Angst-bindend.

DIE FURCHE: Soll Angst auf der politischen Agenda verhandelt oder vermieden werden?

Gross: Von Ernst Bloch stammt die Bemerkung, dass es in den 1930er Jahren ein Fehler war, die Emotionen den Rechten zu überlassen. Wenn man beobachtet, wie Syriza in Griechenland funktioniert, dann haben die zumindest diesen Fehler nicht gemacht: Sie haben sich die Emotionen zurückgeholt. Gefühle sind nie vernünftig, weder von links noch von rechts. Wenn man behauptet, Angst sei die Goldmine für Demagogen, könnte man doch auch sagen: Dann drehen wir es halt um! Das hat ja die Zivilgesellschaft -Stichwort Westbahnhof -ganz toll gemacht. Unsere Politiker aber nicht. Man merkt, wenn Politiker Angst vor Entscheidungen und Machtverlust haben. Meine Mutter hat immer gesagt: Die Leute spüren das, weil auch ein Hund riecht die Angst. Im Zweifelsfall würde ich als Politiker versuchen, offensiv mit dem Thema umzugehen.

DIE FURCHE: Was steckt laut Psychoanalyse hinter der Angst: Gibt es da ein Urerlebnis in der frühkindlichen Entwicklung?

Gross: Die meisten würden sagen , die Urangst bezieht sich auf das Verlassen-Werden von der Mutter. Dann gibt es das berühmte Beispiel der Geburtsangst, das Sigmund Freud von Otto Rank übernommen: Das "Trauma der Geburt" aber wurde von Rank zu sehr generalisiert, denn es liefert keine Antwort darauf, warum wir uns später so unterschiedlich entwickeln. Wie weit wir in unseren Angstmustern von den ersten Lebensjahren geprägt sind, wird immer noch unterschätzt. Wenn man Eltern hat, die einem frühzeitig das Gefühl vermitteln, dass man nicht nur dem Schicksal ausgeliefert ist, tut man sich später viel leichter.

DIE FURCHE: Laut Freud gibt es auch die ozeanische Erfahrung, das allumfassende Geborgenheitsgefühl im Mutterleib, das Menschen manchmal wieder zugänglich werden kann. Könnte diese Erfahrung das Korsett der Angst durchbrechen?

Gross: Da wäre ich vorsichtig, weil ozeanische Gefühle oft nicht weit weg sind von der affektiven Überschwemmung durch Angst. Als Jugendlicher war ich beim legendären Konzert der Rolling Stones in der Wiener Stadthalle. Die Stones haben das Publikum befeuert mit einer diffusen Mischung aus Euphorie und Aggression. Die Polizei hat versucht, dagegen zu halten. Das begann richtig ozeanisch, aber ich bekam es rasch mit der Angst zu tun. Ein Ansatz der Angstbewältigung liegt wohl eher bei jenem Phänomen, das der Psychoanalytiker Michael Balint als "Angstlust" bezeichnet hat: Wenn man sich etwa im Sport bewusst in Angst-besetzte Situationen begibt, diese als lustvoll erlebt und nachher sogar mit einem guten Gefühl belohnt wird - "Wow, das habe ich geschafft!" -, dann kann man auch im Alltag mehr Angst ertragen.

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