Der Terror der Erinnerung

Werbung
Werbung
Werbung

Die Opfer der Terroranschläge von New York und Washington sind psychischen Belastungen ausgesetzt, die man sich nur schwer vorstellen kann.

Dazu der Linzer Angstspezialist und Verhaltenstherapeut Hans Morschitzky.

die furche: In New York und Washington sind mühsame technische Aufräumarbeiten im Gang, die noch monatelang dauern werden. Sind die inneren Schäden der Menschen, die diesen Horror erlebt oder überlebt haben, auch irgendwie aufräumbar?

Hans Morschitzky: Viele der Zeugen, die den Horror überlebt haben oder in unmittelbarer Nähe mitverfolgen mussten, werden wahrscheinlich mit so genannten "posttraumatischen Belastungsstörungen" zu kämpfen haben. Das geht ja schon los. Menschen in New York berichten, dass sie nicht mehr aus ihren Fenstern schauen können, weil sie ständig das World Trade Center noch einmal einstürzen sehen und Ähnliches. Zu diesen posttraumatischen Belastungsstörungen gehören drei wesentliche Merkmale:

1. Extrem lebendiges Wiedererleben: Gegen den eigenen Willen drängen sich immer und immer wieder plas-tisch-lebendige Vorstellungen auf, als ob das Ereignis gerade wieder geschehen würde. Das ist etwas ganz anderes als ein bewusstes Sich-Erinnern. Die betroffenen Menschen kommen sich vor wie in einem Film, der gerade erst gedreht wird. Zum hunderttausends-ten Mal wird das Ereignis live durchgespielt mit all den Gefühlen, die damit verbunden waren. Todesangst, Beklemmung, Grauen. Alles.

2. Vermeidungstendenzen: Die Betroffenen vermeiden alles, was sie auch nur irgendwie an das traumatische Ereignis erinnert, bis hin zu Gesprächen, Filmen oder Geräuschen.

3. Hoher Erregungszustand: Eine geis-tige, körperliche und seelische Übererregtheit ist verbunden mit massiven Konzentrationsstörungen.

Es gibt, wenn auch seltener, die Reaktion, dass Menschen ihre Gefühle regelrecht abspalten. Die verfallen in eine emotionale Abgestumpftheit und können scheinbar ganz "cool" und ohne aufwühlende Gefühle über das Erlebte reden.

die furche: Wie ist der Wissensstand über solche traumatischen Erfahrungen und ihre Behandlung?

Morschitzky: Was viele Menschen in Amerika jetzt erleben, das haben andere - so hart das klingen mag - millionenfach auch schon erlebt, nämlich im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Auch damals wurde registriert, dass die Erfahrungen viele Menschen verändert haben. Aber das Interesse daran war letztlich gering und die Studien darüber sind bald wieder erlahmt. Obwohl viele unter ihren Kriegserlebnissen litten, blieb das ein Einzelleiden und wurde in seinen Auswirkungen nicht wirklich zur Kenntnis genommen.

Die Erkenntnisse über die "posttraumatische Belastungsstörung" sind ein Produkt des Vietnamkrieges. Viele Soldaten kamen damals zwar hochdekoriert zurück, aber zu Hause erwiesen sie sich dann als drogensüchtig, tabletten- oder alkoholabhängig. Die konnten den Horror im Kopf und das Grauen, das sie erlebt hatten, einfach nicht mehr loswerden. Auf einmal war man in Amerika mit einer Menge ehemaliger "Helden der Nation" konfrontiert, die sich als bleibend arbeitsunfähig und völlig desintegriert erwiesen. Es gab zu viele davon, und das hatte soziale Folgen. Mehr als zuvor begann man sich daher mit der Erforschung kriegstraumatisierter Menschen zu beschäftigen.

die furche: Kann man damit rechnen, dass traumatisierte Menschen heute mehr professionelle Hilfe erfahren werden als damals?

Morschitzky: Ich glaube schon, dass die Amerikaner jetzt sehr gute Hilfsprogramme aufbauen werden. Aber eines kann ich Ihnen auch schon voraussagen: Am schlimmsten wäre es für die Opfer, wenn bald wieder zur Normalität übergegangen wird. Sie würden dann mit ihren Problemen vergessen werden und wieder ziemlich isoliert dastehen.

die furche: Genau das soll doch geschehen. Man will Normalisierung und zum Beispiel die Skyline von Manhattan schöner und besser erstrahlen lassen als je zuvor, vielleicht nicht ganz so hoch ...

Morschitzky: Angenommen, es gelingt tatsächlich ein Wunder: Der Terrorismus wird ausgelöscht, und solche Anschläge können sich nicht wiederholen. Dann beginnt sich zwar das Leben wieder zu normalisieren, aber die Opfer haben ihr individuelles Schicksal und Leiden in der Regel noch lange nicht gemeistert. Die Gefahr besteht, dass man diese Menschen dann mit ihren Problemen wieder allein lässt. Niemand beschäftigt sich mit ihnen oder redet über das Geschehen. Und wenn, dann höchstens an Gedenktagen.

die furche: Irgendwie hat man aber als Laie doch den Eindruck, dass die Psychologen ohnehin bei solchen Katastro-phen scharenweise anrücken, um alles für Trauma-Opfer zu tun. Wir haben das ja auch bei uns in Österreich nach der Seilbahn-Katastrophe am Kitzsteinhorn erlebt.

Morschitzky: Die Gefahr besteht, dass man den Opfern gar nicht die Zeit und Ruhe lässt, die sie brauchen würden. Man beginnt manchmal zu früh mit dem Helfen und Durchtherapieren. Manche Hilfstrupps gehen da sicher etwas zu weit und agieren einfach nach dem Motto: "Schnell, schnell, damit nur ja nichts zurückbleibt."

die furche: Auch außerhalb Amerikas gibt es viele Menschen, die durch die Fernsehbilder tief schockiert und betroffen sind und Angst haben, etwas Ähnliches oder gar wieder einen "Dritten Weltkrieg" zu erleben. Hat das Auswirkungen?

Morschitzky: Wenn wir von psychischen Folgen reden, dann muss man die direkt Betroffenen von jenen unterscheiden, die meinen, ihnen könnte in Zukunft etwas Ähnliches passieren. In unserer visuellen Welt ist das Schreckliche sofort in unseren Wohnzimmern zu sehen. Es schaut uns dadurch viel lebendiger an, und wir wissen: Das alles hätte uns auch passieren können! Was ist, wenn's mich auch trifft? Oder wenn so ein Flugzeug auf das Kernkraftwerk Temelín stürzt oder auf einen gewaltigen Staudamm, was dann?

die furche: Lässt sich mit solchen potentiellen Bedrohungen überhaupt vernünftig umgehen?

Morschitzky: Es gibt den schönen Spruch: Glücklich ist, wer die Gefahren des Lebens leugnet. Die Depressiven sind die wahren Realisten. Sie überlegen sich ständig, was auf der Welt nicht alles passieren kann. Die Optimisten sind hingegen die Verleugner der Gefahren des Lebens. Angst zu haben, ist normal und überhaupt nichts Krankhaftes. Krankhaft wäre es nur, wenn man ganz absorbiert wird von der Angst und nicht mehr abschalten kann. Schulische, berufliche, soziale Ängste - jeden trifft es irgendwie. Aber wenn sie einen so beeinträchtigen, dass man darunter zu leiden beginnt, ist es ein Problem und muss behandelt werden. Das gilt auch für die Angst vor Terroranschlägen.

die furche: Ist es überhaupt möglich, angesichts der Bilder und der drohenden Kriegsangst kühl und abwartend zu bleiben? Ist auch Angst in Zeiten der Individualisierung ein individuelles Problem? Jeder muss schauen, wie er damit zu Rande kommt?

Morschitzky: Angst ist eine subjektive Sache. Zur Angst gehört immer, sich etwas vorstellen zu können. So genannte "coole Typen" können sich die Bilder von New York ohne Probleme immer wieder anschauen. Die werden sich auch keine Sorgen machen. Aber klar ist wohl auch, dass es jetzt viele Menschen gibt, die unter einer unbestimmten Angst leiden. Man sollte sich als Einzelner fragen, wo man auf die Staaten und Regierungen vertrauen kann, und wo man auch selbst was tun muss.

Die Medien haben jetzt sicher in erster Linie die Aufgabe, darauf zu schauen, dass wir keine individualisierte pathologische Angst in Österreich bekommen. Die Gefährdungsangst ist ein echtes und berechtigtes Anliegen. Schauen Sie sich das Ringen um das Kernkraftwerk Temelín an. Hier ist es auch gelungen ist, den Betrieb doch etwas aufzuhalten. Das heißt, die Medien müssen Druck ausüben, ob wirklich alles für die Sicherheit - beispielsweise auf den Flughäfen - getan wird.

Die Angst der Österreicherinnen und Österreicher muss auf Regierungsebene ihren Niederschlag finden. Man kann nicht mehr wegschauen und alles locker nehmen. Österreich, schlaf ruhig weiter! Dieses Motto wird es in Zukunft nicht mehr geben können. Mehr Sicherheit muss ja nicht gleich in einem Überwachungsstaat enden.

die furche: Müsste man sich nicht inzwischen jeden Morgen bei einem Abschied fragen: Wer weiß, ob wir uns wiedersehen?

Morschitzky: Jeder Mensch ist jeden Tag bemüht, die Risken und Gefahren des Lebens einfach wegzuschieben. Wir blenden doch auch jeden Tag die Gefahr aus, dass uns beispielsweise ein Autounfall passieren könnte. Angesichts des täglichen Verkehrswahnsinns dürften wir im Grund eigentlich überhaupt nicht mehr mit dem Auto fahren. Aber das alles kommt uns schon so normal vor, sodass uns selbst die täglichen Katstrophenmeldungen von der Straße nicht mehr aufregen oder beunruhigen. Wenn wir ein paar Massenkarambolagen auf der Autobahn haben, dann beginnt gleich wieder die Diskussion: Wie sicher ist eigentlich Autofahren? Dann steht uns, wenn auch nur für kurze Zeit, die tägliche Bedrohtheit unseres Lebens vor Augen. Aber bald darauf wird wieder zur Normalität übergegangen.

die furche: Viele Kommentatoren meinen, nichts sei mehr so wie vor dem 11. September. Werden wir uns auch ändern müssen?

Morschitzky: Die Art von Gefahr ist für uns neu, aber die Verdrängungsmechanismen werden letztlich dieselben bleiben.

die furche: Österreichische Politiker suggerieren, unser Land sei auch in Zukunft nicht gefährdet.

Morschitzky: Das werte ich eher als einen Versuch der Politiker, die Menschen zu beruhigen. Die Frage nach der unmittelbaren Bedrohung bleibt. Angst mobilisiert in der Regel. Wenn wir Angst haben, zeigen wir, was uns wichtig ist im Leben. Das ist wie bei der Wut. Wenn wir keine Wut mehr haben, sondern nur mehr sagen: "Ach, rutscht mir den Buckel runter" - dann ist jegliches Gefühl in uns erstorben, und alles ist uns gleichgültig.

die furche: Der amerikanische Präsident nährt ganz massiv die Hoffnung, dass irgendwann ein Leben in Freiheit und ohne Angst wieder möglich sein wird. Man werde - wenn auch in einem langen Kampf - den Terror an der Wurzel packen und ausrotten.

Morschitzky: Wenn der kulturelle Hintergrund dieser Anschläge nicht gesehen und mitbedacht wird, dann wird auch in Zukunft kein Leben in Freiheit und Sicherheit so wie bisher möglich sein. Man darf nicht vergessen, dass die Menschen dem mutmaßlichen Drahtzieher der Anschläge, Osama Bin Laden, ja scharenweise zulaufen und nicht umgekehrt. Auch in Amerika wird man sich fragen müssen: Warum ist das so? Warum werden wir von vielen Menschen in der Welt so sehr gehasst?

Die Gefahr besteht, dass eine unheilige Allianz verschiedener Staaten die Taliban in Afghanistan hinwegfegen wird, ohne Rücksicht darauf, was damit vielleicht losgetreten wird.

Das Gespräch führte Elfi Thiemer.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung