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Bewegung im Kommunismus

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Während heute alles wie gebannt auf die Auseinandersetzung zwischen Moskau und Peking blickt, wird einem anderen Geschehen im Weltkommunismus, obgleich es mit dieser Auseinandersetzung in engem Zusammenhang steht, nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt: dem „stillen Revisionismus“, mit dem dieser langsam, behutsam und unter vielerlei Tarnungen vom marxistischen Dogma abzurücken beginnt. Es ist auch ideologisch Bewegung in den Kommunismus gekommen, und obgleich davon nicht unmittelbar spektakuläre Ergebnisse zu erwarten sind, handelt es sich doch um ein Geschehen, das auf längere Sicht vielleicht von größerer Bedeutung für unser aller Zukunft Ist als das Schicksal der NATO.

Was da vor sich geht, ist allerdings nicht immer leicht erkennbar, da dieser stille Revisionismus teilweise als „Entstalinisierung“, teilweise als „Bereicherung und Weiterentwicklung des Marxismus-Leninismus“ auftritt und sich selten offen als das zu erkennen gibt, was er wirklich ist: der Anfang vom Ende des Glaubens an die Unfehlbarkeit der marxistischen Ideologie. Und damit die Relativierung des Marxismus zu einer Ideologie unter anderen.

Wenn nun im folgenden die Existenz dieses stillen Revisionismus durch einige Beispiele belegt wird, dann soll damit nicht der Eindruck erweckt werden, daß der Weltkommunismus bald einmal mit fliegenden roten Fahnen zur parlamentarischen Demokratie überlaufen werde. Uberhaupt braucht „von Marx weg“ ja keineswegs gleichbedeutend zu sein mit einem Kniefall vor dem Westen. Es könnte ihnen im Osten ja auch etwas Neues einfallen. Aber wenn man auch noch nicht sagen kann, wohin die Fahrt geht, so ist es doch schon wichtig genug, feststellen zu können, daß der Kommunismus — nehmt alles nur in allem — in Bewegung geraten ist und sich behutsam anschickt, belastenden ideologischen Ballast abzuwerfen. Auch wenn es nur halb bewußt und halb unbewußt geschieht, in einem politischen System, das sich so stark vom Ideologischen bestimmen läßt, muß eine solche stille „Reformation“ des Urdogmas — falls die Bewegung nicht wieder zum Stillstand kommt, was sehr unwahrscheinlich ist — mit der Zeit ihre politischen Folgen zeitigen. Das Wort „Reformation“ ist hier mit Bedacht gewählt, denn die damit in Zusammenhang stehende Auseinandersetzung zwischen Moskau und Peking weist trotz ihres macht- und nationalpolitischen Akzentes wesentliche Merkmale einer Kirchenspaltung auf. Sollte es, wie manche vermuten, über kurz oder lang zu einem regelrechten Bruch zwischen Moskau und Peking kommen, so könnte dies der reformatorischen Bewegung innerhalb des Moskauer Lagers noch erheblich Auftrieb verleihen, da dieses dann vielleicht keine Rücksichten mehr auf die Chinesen — auch diejenigen im eigenen Hause — nehmen müßte.

Wer die Chronik unserer Tage nach Anzeichen einer beginnenden Reformation des Kommunismus durchsucht, stößt auf eine Überfülle von Fakten. Was kommunistische Ideologen und Politiker, die große Staaten oder Parteien repräsentieren, meist nur eben andeuten, hat der „Chefideologe“ des winzigen Schweizer Kommunismus, Dr. Konrad Farner, in einem Interview mi\ der Zeitschrift „Neutralität“ kürzlich mit erstaunlicher Offenheit ausgesprochen. Farner meinte unter Hinweis auf die Existenzfrage, die durch die Atombombe gestellt werde, der Marxismus könne auf diese Frage keine Antwort geben, er müsse „bei den Existenzialisten und bei den Christen Ratschläge holen“, und: „Der Marxismus ist diesbezüglich fast ein Petrefakt, das noch vom achtzehnten Jahrhundert und von seiner bürgerlichen Revolution in unser Jahrhundert hineinreicht.“ Und dann folgen Sätze, die nun wirklich eine revolutionäre Abkehr von Marx deklarieren.

„Wir müssen den Leuten immer wieder sagen: Der Marxismus besitzt nicht das Monopol auf den Kommunismus. Dereinst wird sich eine neue Gesellschaftsordnung heranbilden, in der das Gemeineigentum im Vordergrund steht; das ist für mich eine höchste Wahrscheinlichkeit. Es kann sein, daß dieser Kommunismus geistige Impulse erhält, die nicht marxistisch sind.“

Aber das sind nicht bloße Träumereien eines kommunistischen Hirtenknaben am trauten Herdfeuer der helvetischen Hochkonjunktur. Man weiß, daß etwa in der italienischen KP — der größten kommunistischen Partei des Westens — starke Kräfte am Werk sind, die durchaus ähnlich denken. Obgleich es daneben auch in Italien „Chinesen“ gibt, auf die der Parteichef Togliatti Rücksicht nehmen muß, hat dieser, von einer Reise nach Jugoslawien zurückgekehrt, kürzlich in der Parteizeitschrift „Rinascitä“ das jugoslawische Selbstverwaltungsexperiment gegen die Angriffe der Chinesen verteidigt. Die Jugoslawen hätten durchaus recht, wenn sie den Marxismus „erneuerten“, und alle Kommunisten müßten ihnen darin folgen. Togliatti ging dabei so weit, die Vereinbarkeit von Sozialismus und Marktwirtschaft zu proklamieren. Vor acht Jahren wurde der kommunistische Abgeordnete Giolitti noch aus der Partei ausgestoßen, als er ähnliches gesagt hatte...

In der französischen KP, die besonders verknöchert und „stalinistisch“ ist, sind es vor allem die Jungen, die rebellieren. Seit geraumer Zeit besteht ein offener Konflikt zwischen der Parteileitung und dem kommunistischen Studentenverband, auf dessen Jahreskongreß 1963 die Anhänger der Parteileitung mit 70 Stimmen gegen 242 in Minderheit blieben. Daraufhin organisierte die Parteileitung eine regelrechte Verleumdungskampagne gegen die eigene Studentenorganisation, der jedoch der Erfolg versagt blieb. Der einzige „Erfolg“ war, daß sich inzwischen innerhalb der Studentengruppe ein „linker“ Flügel gebildet hat, der auf dem diesjährigen Jahreskongreß über 100 Stimmen gewann und der nicht nur eine Demokratisierung der Organisation, sondern sogar eine volle Autonomie gegenüber der Partei fordert.

Auch in Jugoslawien tut sich einiges. Auf einer Philosophentagung in Dubrovnik im Sommer 1963 wurden von jugoslawischen Philosophen teilweise Thesen vertreten, die ebenfalls einer Abkehr vom Marxismus nahekommen. So erklärte etwa der Zagreber Philosoph Danko Grlic: „Die Theorie von der vollständigen Abhängigkeit des Menschen vom Grad der Entwicklung der Produktivkräfte geht aus einer Auffassung vom Menschen hervor, die ihn als ein bloß passives Objekt der Ökonomie auffaßt. Sie kann zu jener Entmenschlichung führen, die für die Anhänger Stalins charakteristisch war.“ Vor einiger Zeit ist ein prominenter jugoslawischer Politiker, Professor Anton Vratusa, ein Mitarbeiter des Kammerpräsidenten Kardelj, der eine wesentliche Rolle beim Entwurf der neuen jugoslawischen Verfassung gespielt hat, nach Amerika gereist, um dort die Beziehungen zwischen Exekutive und Legislative zu studieren. Vor der Abreise erklärte er laut einem Bericht der „New York Times“, in Jugoslawien sei nun die revolutionäre Phase zu Ende, man trete in eine neue Phase des politischen Lebens ein: „Es ist eine unmögliche Situation, wenn die Partei versucht, alle Aktivität zu monopolisieren. Wir denken nicht nur an das Absterben des Staates, sondern auch an das Absterben jeder anderen monopolistischen Macht, inklusive der Partei.“

Wir haben von einem „stillen Revisionismus“ innerhalb westlicher kommunistischer Parteien und Jugoslawiens gesprochen. Man trifft das Phänomen, das wir als erstes noch etwas schüchternes Anzeichen einer beginnenden Abkehr vom Marxismus als einer unfehlbaren Doktrin deuteten, aber auch im Osten selbst. Aus Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei könnten zahlreiche Beispiele genannt werden. Aber entscheidend ist, was in der Sowjetunion geschieht — und es geschieht auch, und gerade hier, gar manches.

Entscheidend ist vor allem, was sich hier auf ideologischem Gebiet ereignet, und da ist zunächst einmal etwas zu erwähnen, was westliche Sowjetologen beinahe als Sensation empfinden: für den Oktober dieses Jahres hat Moskau eine „Unionskonferenz über Probleme des dialektischen Materialismus“ einberufen. Eine solche Konferenz hat es noch nie gegeben, und daß man es nötig fand, sie einzuberufen, beweist, wie sehr man ideologisch ins Schwimmen geraten ist. In einem Artikel der sowjetischen Zeitschrift für Philosophie über Sinn und Ziel dieser Konferenz wird denn auch unumwunden zugegeben, „wohl der bedenklichste Mangel“ an der bisherigen Entwicklung des dialektischen Materialismus sei „die noch immer schwache Verbundenheit mit dem Leben, mit der Praxis des kommunistischen Aufbaus.“ (Ubersetzung in Nr. 5, 1964, von „Ostprobleme“.)

Noch schärfer ist Leonid lljitschew,Mitglied der Akademie der Wissenschaften und führender Parteimann, auf einer Sitzung des Präsidiums dieser Akademie mit den sowjetischen Philosophen — die ja, anders als bei uns, als Hohepriester des Marxismus eine eminent politische Rolle spielen (sollten) — und den sowjetischen Wissenschaftern ins Gericht gegangen. Könne man eine vernünftige Erklärung dafür finden, so rief er aus, „daß sich in unserem Lande einige Wissenschafter von der marxistischen Philosophie abgrenzen?“ Daß sie „einer spießbürgerlichen Auffassung von den Gesellschaftswissenschaften“ das Wort reden? Bei den Naturwissenschaftern könne man viele skeptische Fragen hören, und was solle man dazu sagen, „wenn sich diese skeptische Einstellung auch auf den historischen und dialektischen Materialismus erstreckt?“

Der Skeptizismus der sowjetischen Naturwissenschafter gegenüber der Unfehlbarkeit der Marxschen Lehre muß allerdings beunruhigende Ausmaße angenommen haben, wenn die Partei es als nötig erachtet, ihn vor aller Welt so anprangern zu müssen. Ja, die Partei scheint derart in die Defensive gedrängt worden zu sein, daß sie ihre Rettung nur noch in einer Flucht nach vorne sah und in ihrer Verlegenheit selbst das Banner des Revisionismus ergriff. Denn derselbe lljitschew versetzte dem Dogma der Unfehlbarkeit den Todesstoß mit seiner Erklärung: „Das Kategoriensystem der marxistischen Dialektik ist nicht etwas für immer und ewig Gegebenes, Erstarrtes und Unverständliches.“ Und er versuchte die störrischen Wissenschafter mit der Zusicherung zu beruhigen: „In der Wissenschaft darf man nicht dekretieren.“

Besondere Sorgen bereiten der Partei offenbar die Physiker, denn es sei „ein heftiger ideologischer Kampf im Gange“ um die Probleme, die das Verhältnis der modernen Physik zum Marxismus aufwirft. Aber noch hitziger muß es bei den Biologen zu- und hergehen, die sich offenbar dem Parteidekret nicht beugen wollen, daß „jeder Biologe ein streitbarer Materialist sein muß“, denn auch hier sind „heftige Auseinandersetzungen entstanden“, und „wohl auf keinem anderen Gebiet haben sie eine solche Schärfe erreicht“.

Man könnte noch seitenlang mit Zitaten aus dieser ungemein interessanten und aufschlußreichen Rede Iljitschews fortfahren. Aber die wenigen Beispiele dürften genügen, um zu zeigen, in was für ideologische Schwierigkeiten die Partei und damit auch der Staat geraten sind. Wenn aber die Wissenschafter, auf die man doch — man denke bloß an die Astronautik — angewiesen ist, den Marxismus als eine veraltete Philosophie betrachten, mit dereine moderne Wissenschaft nichts mehr anfangen kann — wie in aller Welt soll man mit dieser Philosophie dann auf die Dauer politisch noch Staat machen können? Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: einen modernen Staat machen können? Gewiß läßt sich mit dialektischen Kunstgriffen und Tarnversuchen aller Art eine Zeitlang die Existenz des Grabens zwischen Marxismus und Wirklichkeit verdecken. Aber der Graben wird immer breiter, und wenn einmal die These der Unfehlbarkeit des Marxismus erschüttert ist, ist dieser nur noch eine Theorie unter vielen, die zu revidieren kein Sakrileg mehr bedeutet. Gewiß kann es Rückfälle in den „Dogmatismus“ geben, aber es ist anzunehmen, daß solche Rückfälle den Prozeß der „stillen Revision“ letztlich nur noch beschleunigen werden.

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