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Die Chance für die KP

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„Wir führen einen eigenen Streikkalender als besonderen Kundendienst für unsere Leser“, erklärte der Chefredakteur der römischen Zeitung „II Giorno“. Der Streikkalender soll die Leser informieren, mit welchen Behinderungen sie im öffentlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Leben zu rechnen haben.

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„Wir führen einen eigenen Streikkalender als besonderen Kundendienst für unsere Leser“, erklärte der Chefredakteur der römischen Zeitung „II Giorno“. Der Streikkalender soll die Leser informieren, mit welchen Behinderungen sie im öffentlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Leben zu rechnen haben.

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Der Streikkalender in der italienischen Presse kennt bis jetzt drei verschiedene Arten des Arbeitskampfes, es soll aber bald noch eine vierte hinzukommen. Diese vierte Art, den „Zivilen Ungehorsam“, kündigte zur allgemeinen Überraschung der Leiter der christlichen Gewerkschaften, Bruno Storti, als neue Agitationsform der Arbeitnehmerverbände an. Was hier von christlicher Gewerkschaftsseite vorbereitet wurde, ist die Anarchie in der Praxis des Alltags, die totale Auflehnung gegen jene letzte Autorität, die in Italien der Staat gerade noch besitzt. Storti stellt sich das so vor: man werde keine Billetts mehr für die Straßenbahn lösen; keine Gebühren für den Rundfunk, für Telephon, und Strom bezahlen; die Höhe der Mieten werde man selbst festlegen. Mittlerweile drohen die Gewerkschaften mit neuen Forderungen, nachdem die Regierung ihnen in Gesprächen — die beinahe als Verhandlungen bezeichnet werden können —

besondere Konzessionen hinsichtlich einer Reform des Gesundheitswesens und des Baues von Volkswohnungen gemacht hat. Wie immer auch der Verlauf der industriellen Produktion im heurigen Jahr sein wird, er ist noch immer von den Folgen des heißen Herbstes des Jahres 1969 gezeichnet.

Der Produktionszuwachs lag in Italien jedenfalls während der ersten acht Monate des Jahres 1970 mit 3,4 Prozent weit unter dem Durchschnitt der übrigen EWG-Länder, ja sogar unter dem Durchschnitt fast aller westeuropäischen Volkswirtschaften. Besonders enttäuscht haben die Metallindustrie, aber auch die Chemiefaserindustrie, die großen Maschinenfabriken und der Fahrzeugbau.

Eine amtliche Vorschau, die den Zuwachs des italienischen Volkseinkommens in diesem Jahr auf 6,5 bis 7 Prozent eingeschätzt hat, findet nunmehr bei immer breiteren Bevölkerungskreisen skeptische Aufnähme. Es müßte ein Wunder geschehen, wenn sich derart optimistische Vorhersagen für 1970 noch zwei Monate vor dem Jahresende erfüllen sollten. Es steht jedenfalls fest, daß in den letzten Monaten eine Steigerung der Industrieproduktion um 18 bis 19 Prozent notwendig wäre, um einen Rückgang der Wachstumsrate gegenüber dem Vorjahr aufzuhalten.

An der kritischen Situation der Wirtschaft, die sehr eng mit der labilen politischen Situation Italiens zusammenhängt, konnten auch Marathonsitzungen nichts ändern. Im Oktober gab es jedenfalls die bisher längste Sitzung des italienischen Kabinetts (man tagte 23 Stunden).

Und obwohl die Regierung Colombo Tag und Nacht versucht, das Dekret vom 27. August durchzusetzen und die Reform des Gesundheitswesens, sogar den Bau von Volkswohnungen im Ministerrat bereits weit vorangetrieben hat, lassen die Gewerkschaften nicht locker. Das Konjunkturbarometer Italiens, die Mailänder Börse, zeigt nach wie vor eine eher miserable Tendenz. Und die Bilanzen der großen italienischen Unternehmen könnten sich im nächsten Frühjahr noch verschlechtern, denn erst dann werden die Konsequenzen des bösen Herbstes 1969 zur Gänze offenkundig werden.

In der italienischen Fremdenverkehrswirtschaft fürchtet man ebenfalls, daß bei anhaltender politischer und wirtschaftlicher Unruhe der Fremdenzustrom — der 1970 noch gut war — abnehmen könnte. Dazu tragen die Preise im Hotel- und Gastgewerbe bei, die im Jahre 1970 um 5 bis 10 Prozent gestiegen sind.

Die Wirtschaft antwortet auf die Krisensituation mehr denn je mit Kapitalexporten, wenn auch auf den verschiedensten illegalen Umwegen, Denn ein Dekret der Regierung hat neue Einnahmsquellen — von der Benzinsteuer bis zum Parfüm — erschlossen, trifft aber hauptsächlich die Industrie. So führte die Benzinsteuer zu starken Preissteigerungen bei einem großen Teil der pharmazeutischen Produkte, was wiederum eine Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge nach sich zog. Wenn es Colombo aber nicht gelingen sollte, wesentliche Abstriche von völlig überflüssigen Ausgaben durchzusetzen (etwa Behörden abzubauen, die noch aus dem letzten Krieg stammen), kann er .auch die große Reform der Volksgesundheit und des Volkswohnungsbaus nicht finanzieren.

Wenn das aber nicht gelingt, wird Italien wieder in eine Serie von Streiks und Demonstrationen, ja vielleicht sogar blutige Zusammenstöße taumeln. Höhere Besteuerung wiederum würde dazu führen, daß die Initiative bei Industrie und Wirtschaft noch geringer würde als sie es schon infolge der letzten Maßnahmen ist. Italien sieht sich mit dem Ausklingen des Jahres 1970 mehr denn je dem inneren Druck des kommunistischen Lagers angesetzt.

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