Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
Merzagoras Paukenschlag
Der Vorsitzende des italienischen Senats ist zurückgetreten, weil er in einer öffentlichen Ansprache in peinlich offener Weise seine Meinung über die Disjunktionen des Staates, die Geringheit der politischen Führerschicht, die Abstraktion der Parteien, welche jedes Problem auf das Prokrustesbett ihrer Ideologie spannen wollen, und einige der größten Ungereimtheiten in der öffentlichen Sache geäußert hat. Genug, wie man erkennt, um auf jedermanns Füße zu treten und Skandal hervorzurufen. Cesare Merzagora hat am 20. Oktober auf einer Tagung der „Ritter der Arbeit“ — ein Titel, mit dem besonders verdienstvolle Unternehmer, auch von Staatsbetrieben, ausgezeichnet werden — in Anwesenheit des Staatsoberhaupts gesprochen. Er ging davon aus, daß die Fortschritte in Wissenschaft und Technik den
Menschen neue Horizonte erschließen, und legte sich die Frage vor, ob die heutigen Politiker, besonders der jüngeren Generation, Schritt zu halten vermögen. Er gelangte zu einer verneinenden Antwort und begründete sie mit einigen Beispielen. Nein, keine Enthüllungen, sondern Dinge und Zustände, die bereits in der Öffentlichkeit weithin bekannt sind, oft diskutiert worden sind und einen negativen Eindruck hinterlassen haben: die Schwäche der Exekutive, die mangelnde Autorität des Parlaments, die Klientel der Parteien, die bei der Verwaltung der öffentlichen Gelder waltende Unvernunft, der Verzicht des Staates auf ihm zustehende Aufgaben und zugleich die Anmaßung sich andere aufzubürden, die ihm ferne liegen sollten... alles bekannte Ubelstände, die aber in „14 Punkten“ aneinandergereiht und katalogisiert Eindruck hervorrufen.
„So kann es nicht weitergehen!“
Außer den „Rittern der Arbeit“ hat Merzagora nur die Rechtsopposition der Liberalen, Monarchisten und Neofaschisten Beifall gezollt. Es ist nicht das erste Mal, daß der jetzt 69jährige Senatspräsident als neuer Cato auftritt und Sitte und Unsitte im Staate geißelt. Am lebhaftesten in Erinnerung geblieben ist vielleicht seine Rede vor dem Senat am 24. April 1964, als er vor den verblüfften Parlamentariern darlegte, wie entsetzt Italien angesichts der um sich greifenden Korruption sei. „Cosi non si puö andar avanti!“ hatte er mit einem inzwischen berühmt gewordenen Wort ausgerufen, „so kann es nicht weitergehen!“ Am vergangenen 20. Oktober hat er jedoch zu einer totalen Anklage gegen die Mißwirtschaft ausgeholt. Trotzdem würde die Kritik an Merzagora weniger stark gewesen sein, wenn er unter seinen 14 Punkten nicht auch eine hochaktuelle Frage eingereiht hätte, die in Kürze den Senat beschäftigen wird, nämlich das Gesetz zur Einrichtung der Regionen mit Normalstatut, um das bereits in der Abgeordnetenkammer zwei Wochen lang ein erbitterter Kampf zwischen der Rechtsopposition und der Regierungskoalition geführt worden ist, ein Kampf, in den sich die Kommunisten als unerbetene Helfer der Regierung eingeschaltet haben. Die Kommunisten waren es auch, die den Rücktritt des Senatspräsidenten gefordert haben, weil er im Widerspruch mit seiner Funktion des unparteilichen und unparteiischen Moderators gehandelt
habe, der über den Fraktionen zu stehen habe.
Der Rücktritt des Senatspräsidenten hat die Regierungskoalition in neue Verlegenheit gebracht, den Kommunisten Gelegenheit geboten, sich wieder einmal in den Vordergrund zu spielen und den Rechtsparteien, sich wieder einmal mit den
in der Öffentlichkeit Italiens vorherrschenden Meinungen und Gefühlen identifizieren zu können. Was uns jedoch mehr interessieren kann als die vieldeutigen innerpolitischen Vorgänge, ist die Anklagerede Merzagoras, denn in ihr werden nicht bloß die Sünden des italienischen Staates angeprangert, werden sie doch auch in anderen Breiten begangen und so allgemein, daß man sie als die charakteristischen Anzeichen für die Krise des modernen demokratischen Staates nehmen könnte.
Eine stille Revolution
Die Welt ändert sich mit rapider Eile. Eine stille Revolution ist im Gange, technisch, wirtschaftlich, sozial, politisch. „Sind wir Politiker, und sind vor allem die Parlamentarier der jüngeren Generation genügend auf eine Welt vorbereitet, die sich dank der Wissenschaft unter unseren Augen so rasch verändert? Bei dem gegenwärtigen Stand der Dinge muß ich und kann ich nur mit einem Nein antworten.“ Das Unvermögen der Politiker und des Staates wird „durch einige Dinge, die uns nahe angehen“ erwiesen. Wir wissen nicht, sagt Merzagora, wie lange noch die Terroristen in Südtirol Tod, Haß und Unordnung deutlich nazistischer Marke säen dürfen; wir wissen nicht, wie lange noch das moderne Banditentum in Sardinien und in den großen Städten für das Leben der Bürger eine Gefahr sein wird und ob in der Zukunft mehr Banditen oder mehr Polizeikommissare verhaftet werden (eine ironische Anspielung an jüngste Vorkommnisse in Sardinien, wo Polizeibeamte wegen einiger Ubergriffe begangen an Banditen, ins Gefängnis kamen); wir wissen nicht, ob das Leben der politischen Parteien immer von fragwürdigen Einkünften abhangen wird, die sie aus ihren Beziehungen mit Staatsbetrieben beziehen und damit aus Kontrolleuren zu Kontrollierten werden- wir wissen nicht, ob weiterhin in Italien die Posten mehr auf Grund des Parteibuchs als der Fähigkeit vergeben werden; ob die Sozialfürsorge mit ihren enormen Verwaltungsspesen und geringen Leistungen für die Versicherten weiterhin nur durch Aktionen des Staates gerettet werden kann; ob die staatliche Industrie, einem politischen Druck nachgebend, die Produktion von Gütern vermehrt, die die private nur noch mit Mühe im Ausland abzusetzen vermag (eine Anspielung auf die Errichtung eines riesigen Automobilwerks der Alfa Romeo im Raum von
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!