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Ukraine: das „Land am Rande“

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Beinahe unbeachtet von der Oeffentlichkeit des Westens wird in der Sowjetunion ein geschichtliches Jubiläum gefeiert, das auch außerhalb Osteuropas weltgeschichtliche Bedeutung hat: die Feier der 300jährigen Zugehörigkeit der Ukraine zu Rußland. Man könnte es auch so formulieren: Die Drei- hundertjahrfeier des entscheidenden Schrittes des Russischen Reiches nach Westen. Denn bis zu jenem schicksalsschweren Monat Mai des Jahres 1654 breitete sich der russische Moskauer Staat vorwiegend nach Osten aus. Sein Kampf gegen Polen, Schweden und die deutschen Ordensritter im Westen war bis dahin vorwiegend ein Verteidigungskampf, eine Abwehr kolonisierender Mächte des Westens. Erst mit der Einverleibung des größten Teiles der Ukraine unter dem Zaren Alexej, dem Vater Peters des Großen, beginnt der russische Vormarsch nach Westen. Von jenen Maitagen des Jahres 1654 über die Eroberungen Peters des Großen, die Teilung Polens, die Eroberung der Krim und des Kaukasus bis in unsere heutigen Tage ist es eine logische Entwicklung. Ohne die Unterwerfung des ukrainischen Hetmans Bogdan Chmelnitzkij im Mai 1654 unter die Herrschaft des russischen Zaren wäre in unseren Tagen die Annexion Ostgaliziens, der Bukowina und Bessarabiens gar nicht denkbar. Auch nicht die Sowjetregierung Pc’ is, Rumäniens, Ungarns und der Tschechoslowakei.

Diese Dreihundertjahrfeier lenkt aber auch die Aufmerksamkeit auf das Schicksal eines der größten Völker Europas. Es gibt wahrscheinlich 50 Millionen Ukrainer in der Welt. Ueber 40 Millionen davon leben in einem geschlossenen Raum — der heutigen ukrainischen Sowjetrepublik. Doch auf der Krim, im Nordkaukasus, in Kasachstan und in Sibirien gibt es große ukrainische Kolonien.

Das Schicksal dieses großen Volkes war und ist tragisch. Sein Name schon ist tragisch. „Ukraine" heißt, „Randgebiet". Randgebiet war es für alle: Für die Russen, die Polen und die Türken. Es stand zwischen Ost und West in vielfacher Beziehung: Zwischen osteuropäisch- byzantinischer und westeuropäisch-katholischer Kultur. Doch es lag auch zwischen dem Kulturgebiet der Christenheit und dem des Islams. Was Wunder, daß der Boden dieses schönen, weiten Landes so mit Blut getränkt ist wie wohl kaum die Erde eines anderen Landes. Seine Lage als Randgebiet hat wohl auch sein geschichtliches Schicksal bestimmt.

Für, das zaristische Rußland waren die Ukrainer oder Kfeinrussen nichts anderes als einfach ein russischer Stamm. Das „ganze Rußland" bestand für Petersburg aus fünf „Rußlands": Großrußland, Kleinrußland (Ukraine), Rot rußland (Galizien), Weißrußland und das „Rußland an den Karpaten". Wie man sjeht, waren drei von den fünf „Rußlands" von

Ukrainern bewohnt. Die Russen erhoben

Anspruch auf die Herrschaft über das „ganze Rußland", obwohl Ostgalizien und Karpato- rußland dem Kaiser von Oesterreich und

König von Ungarn untertan waren, und versuchten das auch im ersten Weltkrieg zu erreichen. Doch erst den Sowjets gelang es, dieses weite Programm zu verwirklichen.

Dieses historische Ereignis feiert man in der Sowjetunion schon seit Wochen.

Allerdings, die Geschichte weiß es anders, als es jetzt bei den Festspielen geschildert wird. Im Jahre 1654 war Moskowien durch einen „Eisernen Vorhang" vor jedem Einfluß westlicher Kultureinflüsse dicht abgeschirmt. Durch die Ukraine aber, die seit mehreren hundert Jahren ein Teil des polnisch-litauischen Reiches war, hatten westliche Kultureinflüsse freien Eingang. Die russisch-orthodoxe Kirche war Staatskirche. Sie hatte in der Ukraine schwer zu kämpfen und war daher immer in regem Kontakt auch mit Konstantinopel viel lebendiger. Die Ukraine war damals, auf uraltem Kulturboden, kulturell viel weiter als Moskowien. Während es in Rußland kaum Elementarschulen gab, hatte die Ukraine damals bereits ein weitverzweigtes Schulsystem verschiedener Grade und ihre alte berühmte Hochschule: die „Kiewer Akademie". Die Unterwerfung der Ukrainer führte zum ersten großen Kultureinbruch des Westens in Moskau, zu einer Belebung des geistigen Lebens auch dort. Erst die ukrainischen Einflüsse gaben die Grundlage für die späteren Reformen Peters des Großen. Sie hatten auch die berühmte Kirchenreform des Patriarchen Nikon zur Folge, die erst ein Aufblühen des russischen geistigen Lebens ermöglichte.

Der ukrainischen Kultur bekam aber die russische Herrschaft nicht ebensogut. Mazeppa war der letzte frei gewählte Hetman. Von 1707 an war die Autonomie der Ukrainer nur eine nominelle. Der letzte ukrainische Hetman, nur dem Titel nach, ohne jede Macht, war der Bruder des Favoriten der Kaiserin Elisabeth, Rasumowsky. Ekaterina II. liquidierte dann endgültig das ukrainische Kosaken- tum und jede Sonderart der Ukraine. Die Ukraine wurde, wie das ganze übrige Rußland, in Gouvernements eingeteilt. Der ukrainische Kosakenadel russifizierte sich rasch. Die ukrainische Sprache wurde zu einem bäuerlichen Dialekt herabgedrüokt. Mit einem Wort, es gäbe heute überhaupt keine ukrainische Nation mehr, wenn nicht aus der Bukowina und Galizien, die unter österreichischer Herrschaft standen, in der Mitte des vorigen Jahrhunderts eine Renaissance der ukrainischen Kultur gekommen wäre. In der russischen Ukraine war ukrainisch nur das Bauerntum geblieben. So vereinigte sich der ukrainische Nationalismus mit einer revolutionären Bewegung, die bäuerlichen Charakter trug. Nach der Revolution von 1917 kam die nationalistisch-bäuerliche Revolution voll zum Ausbruch. Die Ukraine wurde der Schauplatz des blutigsten und furchtbarsten Teiles des europäischen Bürgerkrieges.

Die ukrainische Nationalbeiwegung mit deutlich jakobinischen Zügen stand zwischen der roten Revolution Moskaus und der gegenrevo- hitk ".en zaristischen Bewegung in Südrußland. Gegen zwei Fronten kämpfend, ‘ .nte sie sich nicht halten, insbesondere als sich noch eine dritte Front bildete: die Polen. Die westukrainische Republik, die sich in Ostgalizien nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie gebildet hatte und bereits völkerrechtlich anerkannt war, wurde von den Polen überrannt. Das benützte Lenin, um den Ukrainern staatliche Selbständigkeit, nationale Kulturautonomie und die schließliche Vereinigung aller Ukrainer in einem Staat zu versprechen. Ein großer Teil der Ukrainer ging daher 1918 ins rote Lager über. Ein kleinerer Teil, mit dem Bauernführer Petlju an der Spitze, schloß sich den Polen an. Doch später, bis in die Jahre knapp vor dem zweiten Weltkrieg, ging dauernd ein unterirdischer Kampf zwischen Moskau und dem ukrainischen Nationalismus vor sich. Er hatte verschiedene Etappen und forderte immer wieder neue Opfer.

Zwischen,den beiden Weltkriegen war die ukrainische Nation auf vier Staaten geteilt: die Sowjetunion, Polen, Rumänien und die Tschechoslowakei. Das galizische Ukrainertum, kulturell am meisten fortgeschritten, war auch immer besonders nationalistisch radikal. Gegen die Unterdrückung der Polen und gegen den Kommunismus kämpfend, glaubte ein Teil von ihnen den Versprechungen Hitlers. Doch die ukrainische Republik, die nach dem Zerfall der Tschechoslowakei in der Karpato-Ukraine von Hitlers Gnaden gebildet wurde, lebte nur einige Monate. Sehr rasch opferte Hitler diese Republik seiner Politik. Er lieferte sie den Ungarn aus, und sehr viele ukrainische nationalistische Führer bezahlten ihren Glauben an Hitler schon damals mit dem Leben. Die Liquidierung dieses kurzlebigen ukrainischen Staates sollte auch den Weg zur deutsch-russischen Verständigung freimachen.

Im Ribbentrop-Molotow-Pakt im August 1939 lieferte Hitler Ostgalizien und die Nord-bukowina an die Russen aus, und als die deutschen Truppen alle diese Länder und die russische Ukraine dazu besetzten, war die Enttäuschung noch größer. Die deutschen Besatzungsbehörden machten nicht die geringste Miene, einen selbständigen ukrainischen Staat aus der Taufe zu heben.

Die Lage des Ukrainertums ist heute genau so tragisch wie vor Jahrhunderten. Es steht zwischen den Fronten. In der seit 300 Jahren russischen Ukraine ist heute der ukrainische Separatismus sehr schwach. Zu lange war die Ukraine unter russischer Herrschaft. Ein wesentlicher Teil der Bevölkerung war schon immer für das Verbleiben im russischen Imperium. Die antirussischen Kräfte sind hier weitgehend dezimiert. Sie wurden während der vielen inneren Kämpfe von 1922 bis 1938 zu Zehntausenden erschossen, zu Hunderttausenden deportiert. Die letzte große Welle der Vernichtung dieser Kräfte erfolgte nach 1945, nach der Wiederbesetzung der Ukraine durch die Russen. Für die meisten Ukrainer, so weit sie nicht ausgesprochen antikommunistisch sind, genügt heute das nominelle Bestehen eines ukrainischen Staates, in dem das Ukrainische Staatssprache ist. Doch in der sogenannten Großukraine war es schon immer so: die ukrainische Bewegung hing ganz von den Stimmungen der Bauernschaft ab. Wenn sie mit ihrer wirtschaftlichen Lage unzufrieden ist, drückt sich das in einem lawinenartigen Anschwellen des kämpferischen Nationalismus aus. Plötzlich, wie aus heiterem Himmel, kommen dann die Aufstände. So war es zu Keredschij, dann im Bürgerkrieg, endlich während der Kollektivisierung. Von 1922 bis 1926, während der sogenannten NEP, als die Bauern mit der sowjetischen Wirtschaftspolitik zufrieden waren, war auch der ukrainische Nationalismus sehr schwach.

Beinahe fanatische Nationalisten sind aber die Galizier. Da sie ein von den übrigen Ukrainern verschiedenes historisches Schicksal hatten, sind sie auch von ihnen sehr verschieden. Ihre Antipathie gegen das Russentum ist sehr tief. Aus galizischen Ukrainern rekrutierten sich aiuch die Partisanen, die noch Jahre nach dem Krieg gegen die Sowjets und die Polen kämpften. Aus ihnen rekrutierte sich die Armee des sagenhaften Generals Bandera, der gegen alles mögliche, immer gegen zwei Fronten kämpfte, gegen die Deutschen und die Rote Armee, gegen Russen und Polen. Die galizischen Ukrainer bilden nicht nur die Mehrheit, sondern sind auch die energischesten und am besten organisierten Teile der ukrainischen Emigration. Doch sie sind, wie schon immer in der ukrainischen Geschichte, wie der Hetman Bogdan Chmelnitzkij vor 300 Jahren, in einer tragischen Lage: Um den augenblicklichen Gegner zu bekämpfen, müssen sie sich an den stärksten Feind anlehnen.

Auch heute muß die ukrainische nationali stische Opposition sich an den stärksten ausländischen Gegner der Sowjets anlehnen. Der sucht aber auch dort die Hilfskräfte, wo er sie findet. Also auch unter jenem Teil der antisowjetischen Emigration, die ebenfalls nationalistisch für ein „großes und ungeteiltes Rußland" ist, also gegen die ukrainische Selbständigkeit. Ob der ukrainische Nationalismus je aus dieser tragischen Lage kommen wird, kann nur die Zukunft weisen.

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