Was nach dem Brexit bleibt

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GASTKOMMENTAR. Warum Europa in der Verteidigungs-und Sicherheitspolitik auf die Briten auch künftig nicht verzichten kann und welche Szenarien sich für die Zusammenarbeit in diesem Bereich ergeben.

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GASTKOMMENTAR. Warum Europa in der Verteidigungs-und Sicherheitspolitik auf die Briten auch künftig nicht verzichten kann und welche Szenarien sich für die Zusammenarbeit in diesem Bereich ergeben.

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In der höchst emotional und chaotisch geführten Debatte über den Brexit wird ein ganz wesentlicher Aspekt nahezu ausgeblendet. Er betrifft das künftige Verhältnis des Vereinigten Königreiches (VK) zur Europäischen Union im Bereich der Verteidigungs-und Sicherheitspolitik.

Nach dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU wird es - zumindest formell - nicht mehr Teil der europäischen "Common Security and Defense Policy"(CSDP) sein. Der Einfluss des VK auf die europäische Sicherheit wird jedoch sehr stark bleiben, und zwar nicht nur wegen seiner Rolle in der NATO, sondern auch als der potenteste und engagierteste europäische Partner.

Mehrere Szenarien für die Auswirkungen des Brexit auf die europäische Sicherheits-und Verteidigungspolitik sind denkbar: von einer Beschleunigung der Integration zu einer begrenzten Auswirkung bis zu einer Fragmentierung und schließlich dem Zusammenbruch des Systems der CSDP.

Die Europäische Union hat in den letzten beiden Jahren begonnen, in den Bereichen der Verteidigung und Sicherheit Parallelstrukturen zur NATO aufzubauen. Sie reichen vom sogenannten "European Defense Action Plan" (EDAP) bis zu einer permanenten strukturierten Zusammenarbeit ("Permanent Structured Cooperation", PESCO) und sogar bis zur Schaffung einer Europäischen Verteidigungsunion ("European Defense Agency"). Interessant ist, dass diese im Jahre 2017 in Brüssel gefassten Beschlüsse mit voller Zustimmung des Vereinigten Königreiches erfolgten. Man hätte annehmen können, dass nach dem Referendum zum Austritt des Landes aus der EU vom 23. Juni 2016 das VK derartige Vorhaben blockieren würde. Dass es dazu nicht gekommen ist, deutet darauf hin, dass -unabhängig vom Brexit - das Land weiterhin höchst interessiert ist, in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit das enge Verhältnis zur EU aufrecht zu erhalten. Das betrifft nicht nur die Verteidigung im engeren Sinn, sondern auch die europäische Sicherheit und hier insbesondere die Terrorismusbekämpfung und die "Intelligence", wo Großbritannien seit langer Zeit führend ist.

Umfassendes Kooperationsangebot

In diesem Sinne hat die britische Regierung im September 2017 eine Grundsatzerklärung unter dem Titel " Foreign policy, defense and development -a future partnership paper" veröffentlicht, die den EU-27 in diesen wichtigen Fragen volle Kooperation zusichert. Es soll hier praktisch keine Einschränkungen in der bisherigen Zusammenarbeit geben. London schränkt lediglich ein, dass es selbst entscheiden müsse, an welchen künftigen Militäroperationen und Kooperationsfeldern es teilnehme und an welchen nicht. Man ist zudem bereit, sich auch nach dem Brexit an der EU-Rüstungsagentur, an den einschlägigen Rüstungsforschungen und am satellitengestützten Ortungssystem "Galileo" - wie in der Vergangenheit -zu beteiligen. Dies würde ebenso finanzielle Verpflichtungen einschließen.

In Zukunftsfeldern wie der Cybersecurity bietet das Vereinigte Königreich der EU ebenfalls eine umfassende Kooperation an. Nicht erstaunlich ist, dass ungeachtet dieser Überlegungen die britische Regierung die NATO weiterhin als den wichtigsten Anker der europäischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik ansieht und allen Versuchen, die Atlantische Allianz zu schwächen, eine Absage erteilt. Dies steht allerdings in einem gewissen Widerspruch zu der Bereitschaft, am Aufbauen reiner EU-Strukturen auf diesen Gebieten mitzuwirken.

In der Einschätzung der europäischen und globalen Bedrohungsszenarien besteht weitgehende Einigkeit zwischen Großbritannien und der Europäischen Union. Diese Bedrohungen sind insbesondere Terrorismus, Extremismus und Instabilität, Auswirkungen der Technologie in den Bereichen Cyberkriminalität und Abschreckung von staatsbasierten Bedrohungen.

Auch bei der Cybersecurity hat das VK eine führende Rolle inne: In der "2016 National Security Cyber Strategy" wird die Verpflichtung ausgesprochen, in den nächsten fünf Jahren eine Summe von 1,9 Milliarden Pfund für Cyberkapazität auszugeben. Großbritannien hat darüber hinaus entscheidende Beiträge zur Entwicklung der "EU Network and Information Security"-Direktive geleistet und beteiligt sich an der Entwicklung des "NIS Computer Security and Incident Response Team"(CSIRT). Auch stellt das VK wichtige Beiträge zur "European Union Agency for Network and Information Security"(ENISA) zur Verfügung.

Frankreich, Deutschland, USA

Was das Verhältnis der EU zur NATO anbelangt, so wird das in Zukunft von der Relation der CSDP zum Post-Brexit-GB abhängen. Die Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Organisationen könnte leiden, sollte CSDP stagnieren. Sollte andererseits die EU ein stärkerer und glaubhafterer Akteur im Krisenmanagement werden, so könnte dies in eine bessere und mehr formalisierte Aufgabenverteilung münden. In anderen Worten: sollte sich die europäische Verteidigungsintegration beschleunigen, dann könnte es zu einer Duplizierung der Aktivitäten kommen, was wiederum die vorhandenen finanziellen Mittel belasten würde.

Der Brexit wird über diese Überlegungen hinaus auch besondere Auswirkung auf die bilateralen Beziehungen des VK mit Frankreich, Deutschland und den Vereinigten Staaten haben. Die beiden "Lancaster House Abkommen" zwischen Großbritannien und Frankreich aus dem Jahre 2010 haben die britisch-französische Verteidigungs-und Sicherheitspartnerschaft in einem der engsten und wichtigsten bilateralen Abkommen für Paris festgeschrieben. Dies vor allem in Hinblick auf die Zusammenarbeit der beiden Armeen in zahlreichen Fällen. Auch wird das französisch-deutsche Verhältnis für die weitere Richtung der europäischen Sicherheits-und Verteidigungspolitik entscheidend sein. Frankreich bleibt in der EU das einzige Atomland und das einzige ständige Mitglied des UN-Sicherheitsrates, was eine dominante Stellung mit sich bringt. Was das Verhältnis zwischen dem VK und den USA nach dem Brexit betrifft, so ist vorauszusehen, dass die vielzitierte "special relationship" der beiden Staaten in beiderseitigem Interesse aufrecht erhalten bleibt. In militärischen Belangen basiert die Zusammenarbeit zwischen dem VK und den USA auf einer weitreichenden Angleichung der Waffensysteme und der Entwicklung von Ausbildung und Operation.

Auch nach dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU bleibt die Bekämpfung des Terrorismus oberstes Ziel. Jedoch gibt es keinen Automatismus, der die Teilnahme des VK an europäischer polizeilicher oder justizieller Zusammenarbeit sicherstellen würde. Es wäre von besonderem Interesse für die Union und ihre Mitgliedstaaten, weiterhin von der berühmten "British Intelligence" profitieren zu können. Andere EU-Mitgliedstaaten, mit denen das Vereinigte Königreich enge bilaterale Verteidigungsabkommen hat -wie Dänemark, die Niederlande, Polen, Schweden und die Baltischen Staaten -werden ebenfalls ihre strategische Ausrichtung nach dem Brexit neu definieren müssen.

Zukunftsweisende Entscheidungen

Alles in allem sind die Dinge als Folge des Brexit naturgemäß nicht nur in wirtschaftspolitischen Fragen, bei den berühmten "Vier Freiheiten" der EU und vor allem der Regelung der Irland-Frage, sondern insbesondere auch in den hier beschriebenen Bereichen sehr im Fluss. Gerade bei diesen Themen besteht aber ein größeres Potenzial, zu zukunftsweisenden und für beide Seiten akzeptablen Entscheidungen zu kommen.

So sehr ich -wie nunmehr nahezu alle in der Europäischen Union -die Entscheidung der britischen Bevölkerung kritisiere und sie insbesondere im Falle eines ungeregelten Brexit für katastrophal für das Land und schädlich für die EU-27 halte, bin ich überzeugt, dass eine weitere enge Zusammenarbeit mit dem Post-Brexit-VK im Verteidigungs-und Sicherheitsbereich für uns alle unverzichtbar bleiben wird.

Der Autor ist Botschafter i. R. Von 2000 bis 2005 war er österreichischer Botschafter in London

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