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Friedrich Christian Delius schreibt über dunkle Schatten deutscher Geschichte.

Während des Dritten Reichs wurde im Jahr 1934 der Volksgerichtshof als Sondergericht für politische Straftaten eingeführt. Vor ihm standen bis zum Zusammenbruch des Regimes insbesondere Mitglieder der Widerstandsbewegungen. Der bundesdeutsche Jurist Rudolf Weber- Fas, Richter an einem obersten Bundesgericht und Universitätsprofessor, konstatiert Jahrzehnte später, dass Freislers Volksgerichtshof ein Ausnahmegericht war, das nach den Prinzipien des Grundgesetzes verfassungswidrig wäre. Und weiter heißt es bei ihm wortwörtlich: "Der unter Ausschaltung des Reichsgerichts in erster und zweiter Instanz fungierende, überwiegend mit Laien besetzte Volksgerichtshof des Nationalsozialismus diente einer rechtsstaatswidrigen Verfolgung und Vernichtung von Gegnern des Regimes."

Größter Justizskandal

Einer der Richter am Volksgerichtshof war Hans-Joachim Rehse, der an mindestens 231 Todesurteilen mitgewirkt hat. Auch an solchen, die nicht einmal nach den Sonderbestimmungen des ns-Staats gerechtfertigt waren. Als er am 6. Dezember 1968 endgültig freigesprochen wurde, war einer der größten Justizskandale der Bundesrepublik Deutschland ausgelöst. Das Urteil eines Berliner Schwurgerichts unter dem Vorsitz Ernst-Jürgen Oskes enthielt nicht nur seinen persönlichen Freispruch, sondern auch "gleich für den ganzen Volksgerichtshof und darüber hinaus für die gesamte ns-Justiz" (Ingo Müller). Oskes Generalpardon für den Volksgerichtshof blieb unwidersprochen und ist das letzte Wort der westdeutschen Gerichte zur Nazi-Justiz.

"Es war an einem Nikolausabend, in der Dämmerstunde, als ich den Auftrag erhielt, ein Mörder zu werden. [...] Eine feste männliche Stimme aus [...] dem Äther [...] stiftete mich an, [...] den Mörder R. zu ermorden", heißt es im ersten Absatz des Romans "Mein Jahr als Mörder" von Friedrich Christian Delius. Ein Literaturstudent beschließt, noch während er die Nachricht über den Freispruch im Radio hört, ein Zeichen setzen zu wollen. Die Empörung über das Fehlurteil lässt ihn zur Selbstjustiz greifen. Sein "Jahr als Mörder" beginnt. Er will Richter R., wie er im Buch abgekürzt genannt wird, umbringen. Für den Studenten eine ganz persönliche Angelegenheit, denn R. hat auch den Vater seines besten Freunds zum Tod verurteilt, nämlich Georg Groscurth, der gleichzeitig der Leibarzt von Rudolf Heß und Widerstandskämpfer war, zusammen mit niemand geringerem als dem späteren ddr-Dissidenten Robert Havemann. Groscurth und Havemann gehörten der Widerstandgruppe e.u. (Europäische Union) an, die Juden und andere vom Regime Verfolgte finanziell und medizinisch unterstützte. Eine unglückliche Verkettung von Zufällen führte zur Enttarnung der e.u. Eine Leistung des Romans ist das Beleuchten des Dilemmas, in dem Georg Groscurth gefangen war, der zum Schutz seiner Tätigkeit mit den übermächtigen Gegnern kollaborieren musste.

Daneben beschließt der Student, eine Biografie über den in Vergessenheit geratenen Widerstandskämpfer und Arzt zu schreiben. Das Buch zum Mord soll die moralische Begründung der Straftat abgeben.

Geschichte recherchiert

Friedrich Christian Delius ist dafür bekannt, reale historische Ereignisse mit fiktiven Handlungen verweben zu können, man denke nur an sein Buch "Mogadischu Fensterplatz". In seinem neuen Roman arbeitet Delius ebenso nach dem bewährten Muster.

Der Berliner Arzt Georg Groscurth wurde im Dezember 1943 zum Tod verurteilt und am 8. Mai 1944 im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet. Im Roman trägt Delius Stück für Stück zwei Lebensgeschichten zusammen. Die Biografien des Gerichteten und seiner Witwe Anneliese Groscurth, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Ärztin in West-Berlin mit ihren kleinen Söhnen buchstäblich durchschlagen muss, zumal auch ihr, die zwischen die Fronten des Kalten Kriegs gerät, von Ämtern und Behörden übel mitgespielt wird. Wegen ihrer Unterstützung der Aufrufe Havemanns gegen Faschismus und Krieg wird sie zur Staatsfeindin. Sie verliert ihre Anstellung als Amtsärztin und den Status als Hinterbliebene eines politisch Verfolgten. Erst nach jahrzehntelangem Kampf bekommt die mutige und unerschrockene Frau teilweise recht.

Geschichte und Gegenwart

Die pure Mordlust, die den Romananfang scheinbar zu einem veritablen Krimi macht, geht während des Erzählens mehr oder weniger zwischen den Zeilen verloren. Der Inhalt ist trotzdem spannend, dokumentiert Delius doch ein tragisches Kriegs- und Nachkriegsschicksal. Der junge und unbescholtene Mann mit den Mordplänen vertieft sich in Akten sowie Dokumente und führt mit der Witwe Gespräche. Die Mordpläne treten in den Hintergrund, der Fall als exemplarischer in den Vordergrund.

Das Buch ist im wesentlichen auch keine wirkliche literarische Glanzleistung, sondern gleichsam ein Sachbuch, das durch Akribie überzeugt. Delius' Recherche, die von Groscurths Nachkommen unterstützt wurde, hält in der Faktizität jeder Überprüfung stand. In diesem Sinn ist Friedrich Christian Delius jener deutschsprachige Schriftsteller von Rang, der es versteht, Zeitgeschichte und Gegenwart gekonnt zu literarisieren.

Mein Jahr als Mörder

Roman Friedrich Christian Delius

Verlag Rowohlt, Berlin 2004

Leinen, 301 Seiten, e 20,50

TIPPS Zur vertiefenden Lektüre:

Deutsche Richterschaft 1919-1945

Von Ralph Angermund

Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 1990

Justizalltag im Dritten Reich

Hg. von B. Diestelkamp/ M. Stolleis

Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 1988

Furchtbare Juristen.

Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz

Von Ingo Müller

Knaur, München 1987

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