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Das grobe Tabu unserer Tage

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Der Anstieg des freien Goldpreises in den letzten Wochen auf die Krisenhöhe von 44 Dollar pro Unze läßt das ungehemmte Weiterwirken der Krisenkräfte im Untergrund des Wirtschafts-gefUges erkennen. Wer die Zwjschenkriegszeit erlebt hat, erinnert sich mit Unbehagen an die optimistischen Morgenzeitungen des 24. Oktober 1929, an dem mittags nach fast 20 Milliarden

Dollar Spekulationsverlusten in der Wallstreet das anscheinend so fest gefügte Gebäude der damaligen Weltwirtschaft in wenigen Stunden wie ein Kartenhaus einstürmte. Pfundkrise und Pfundabwertung, die der Weltwirtschaftskrise vorausgegangen waren, bilden neben Illusion und Spekulation das dritte unangenehme Vergleichsmerkmal zwischen damals und heute.

Stehen wir vor einer neuen Weltwirtschaftskrise? Die Experten heben entsetzt abwehrend die Hände vor einer solchen Frage. Man habe gelernt, Wirtschaftskrisen rechtzeitig zu erkennen und zu manipulieren, ist die stereotype Antwort auf die Äußerung von Besorgnissen, wobei der Ton sehr auf das „Manipulieren“ . gelegt ist. Tatsächlich besteht das ganze Reservoir der Kri-senlbekämpfung lediglich aus der ad-thoc-Gewährung von Beistandskrediten an den krisenlbetroffenen Staat, eine an sich nicht gerade von Weisheit triefende Methode. Die Zweifel am konjunkturellen Selbstbewußtsein der Wirtschaft und der Wirtschaftswissenschaft finden auch sonst reichlich Nahrung. Fünf Wirtschaftskrisen innerhalb eines einzigen Jahres, wovon vier bis zur würgenden Existenzangst reichten, nehmen dem Bild den gebräuchlichen Rosaton. Erinnern wir uns doch: In der zweiten Hälfte November 1967 die Pfundkrise mit psychologischen Auswirkungen bis ins westliche Österreich, wo man sich ohne jeden Grund in eine hysterische DM-Gläubigkeit zu stürzen beliebte; Ende März 1968 die internationale Goldkrise mit der Spaltung des Goldpreises, dem selbst von optimistischsten ; Finanzkreisen . keine lange Lebensdauer zugebilligt wirä; die Vorboten der großen Franc-Krise im Vorsommer; die Prager Krise im August, die trotz der etwas plumpen Applanierung mit Panzern im Kern nichts anderes als eine auf weltanschaulich verursachte Investitionsschwäche sich entwickelnde Konkurrenzunfähigkeit mit daraus resultierendem Suihstanizverlust war; und schließlich zwischen dem 20. und 30. November 1968 die schon fast globale Ausmaße annehmende Franc-Krise.

Wenn man die östlichen Wirtschaftsschwierigkeiten trotz verwandter Voraussetzungen wegen der völlig anders gearteten Behandlungsmethoden außer Betracht läßt, so ergibt sich noch genug Grund für weltweite Besorgnisse und die Frage, ob die vor rund 35 Jahren mit dem New Deal Roosevelts ins Leben gesetzte konsequente inflationistische Wirtschaftspolitik und das 1944 begründete Währungssystem von Bret-ton Woods ihre Berechtigung haben. Kritische Beobachter erwarten denn auch, daß die Administration Nixon das westliche Währungssystem auf eine ganz neue Basis zu stellen versuchen wird. Wie diese Basis aussehen wird, kann aber niemand sagen. Es wird immer deutlicher, daß die internationale Finanzwelt und die gesamte Wirtschaftswissenschaft keine neuen Ideen anzubieten haben — was einmal festzustellen ist, weil das geheimnisvoll klingende Wirtschaftschinesisch der Expeirten-spracbe der breiten Öffentlichkeit den sachlich durch nichts begründeten Eindruck wirtschaftlicher Unfehlbarkeit vermittelt. Man wird sich sogar die Frage stellen müssen, ob überhaupt neue, bisher unibekannte wirtschaftliche Denkformen und Methoden entwickelt werden können oder ob die Wirtschaftspolitik ähnlich der dramatischen Dichtung auf ein ganz engbegrenztes Repertoire angewiesen ist, das ihr letzten Endes nur den Wechsel zwischen zwei Möglichkeiten offen läßt.

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