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Digital In Arbeit

Der heimatlose Mensch

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Und so kommen wir zu einem Resultat, das der deutsche Soziologe Hans Freyer folgendermaßen definiert: „Der Mensch von heute wird ¡nicht vergewaltigt, aber er wird durch die Einrichtungen des Staates und der Institution .ausgewaschen .“ Das Ergebnis ist die Entfremdung der Gesellschaft, der schon die Entfremdung der Arbeit vorangegangen ist. Der Mensch wird in Zukunft heimatlos in einer ihm sinnentleerten Welt stehen, in der die menschlichen Kontakte fehlen. Einer Ge- seUscbaftsordinung eine solide Basis, einer Idee die vertrauensvolle Zuversicht geben, für eine Ideologie Begeisterung zu erwecken, war von jeher Aufgabe der Elite. Führungsgremien sind noch keine Eliten. Elite ist keine Institution, es gibt keine Entwicklungsgesetze ihres Entstehens und keine Satzungen für ihr Bestehen. Sie muß von selbst reifen.

In Relation zur Bevölkerumgs- zunahme müßten auch die Eliten wachsen, damit dem gesetlLschaift- lichen und kulturellen Leben eine ausreichende Basis gegeben ist. An welche Voraussetzungen ist dies gebunden?

Lebensstandard ist keine absolute Größe. Der Mensch als Konsument hat zeitlich und örtlich gebundene Vorstellungen, wie sein Dasein und seine Welt gestaltet werden sollen, damit er sich darin wohlfühlen kann. Die angestrebte, als Ideal erscheinende Lebenshaltung stellt eine Summe von Wünschen dar, die durch Herkommen, Kinderstube, beruflichen Werdegang und vom Milieu geformt werden.

Mehr Individualität!

Wir müssen heute nach tieferen Quellen schürfen, wenn im Brimborium des Daseins nicht jede echte Individualität verglühen soll. Der Zweifler soll zweifeln, der Kritiker kritisieren, Öler Rebell rebellieren dürfen, solange die Gemeinschaft nicht gefährdet ist. Das Außerordentliche soll geachtet und das Außergewöhnliche und Eigenwillige nicht geringschätzig abgetan werden,

damit Persönlichkeiten heranreifen können.

Es gibt keine Massenbildung, wohl aber Bildung von Massen — vorausgesetzt, daß die erforderlichen Mittel hierfür aufgebracht werden unld die Massenmedien (Presse, Rundfunk und Fernsehen) ihre Dienste anlbieten. Halten wir uns an den Philosophen Gabriel Marcel: „Nur der Einaelimemsch oder, besser gesagt, die Person ist erziehbar. Sonst ist überall nur Raum für eine Dressur.“

Man kann die Menschen allerdings nicht die Leiter hinauftragen, man bann die Voraussetzungen für sie schaffen, ihnen die Leiter hinhal- ten — aber steigen müssen sie selbst.

Nicht die Negation der Persönlichkeit, sondern die Aktivierung der schöpferischen, zur Persönlichkeit führenden Kräfte ist der Schlüssel zu einer glücklicheren Zukunft. Es ist auch Illusion, zu glauben, daß, wenn der Sinn für echte Werte verschwunden ist, gerade das Wort Freiheit sich seinen Sinn und seine Bedeutung erhalten könnte. Es wird zu einem Schemen verblassen.

Der heutigen Konsumgesellschaft, in der durch eine gewissenlose Reklame unnötige Bedürfnisse erweckt werden, müssen die Reiser farbenbunte Blüten und edle Früchte tragender Kultur auf- gepfiropft werden. Das Materielle muß dem Ideellen mehr Raum geben, damit das Aufstrebende, das Besondere, das Außergewöhnliche, die Individualität Luft und Licht zum Wachsen haben. Danach sollen wir streben. Kündet doch Johann Wolf gang Goethe: „Höchstes Glück der Erdenkinder sei nur die Persönlichkeit.“

Vorläufig hat nur eine verschwindende Minderheit der Erdbevölkerung eine kulturelle Stufe erreicht, die sich etwa mit jener der heile- nistisch - römisehen Epoche vergleichen ließe.

Mehr für die Masse!

Sicherlich verdanken wir den hohen Stand unserer Zivilisation und Kultur vorwiegend den Leistungen einer Elite großer Philosophen, Forscher und Techniker, aber sie hätten ohne die Mühe und den

Schweiß der „Masse“ nicht die

Früchte getragen,, deren wir uns heute erfreuen.

Das Wort „Massengesellschaft“ ist zum Gemeinplatz geworden. „Schon eure Zahl ist Frevel“, sagte der Dichter Stefan George. Aber umgekehrt sind es nicht nur Ressentiments, sondern ernstzunehmende Zweifel, „ob eine solche moderne Staatsgesellschaft mit ihrer Millionenbevölkerung und mit ihrer ebenfalls nach vielen Millionen zählenden Menge von Wahlberechtigten überhaupt eine Gesellschaft von Bürgern sei und sogar sein könne“. (Doli Stem- benger.) Die Zweifel werden nun insofern beseitigt werden können, als es gelingt, das Bildungsniveau der „Masse“ zu heben und die „Mündigkeit“ einer möglichst großen Zahl von Staatsbürgern zu erreichen.

Welche zukunftsträchtige Perspektive ergäbe sich aus der Synthese einer sich wieder ihrer Aufgabe und Berufung bewußten Elite und einer zu Individualität erzogenen und emporgehobenen Masse? Die Formung neuer Eliten und die „Ent- massunig“ müßten Hand in Hand gehen, auch wenn ob der kulturellen Aufwendungen das materielle Wohlbehagen langsamer vorankäme. Viel wichtiger als mehr zu produzieren, wäre, mehr zu erziehen. Der Mensch muß aus der Trägheit wachgerüttelt werden, denn nur eine Minderheit hat von sich aus das Bedürfnis, die Fesseln der Passivität und der Gewohnheit abzustreifen. „Der Fortschritt, den wir so sehr bejahen, wenn wir ihn mit neuen Erfindungen und Verbesserungen in der Welt der Materie assoziieren können, wird uns unheimlich, sobald er auf politischem oder sozialem Gebiet vor sich gehen soll.“ (George Gallup.)

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