6563383-1949_21_07.jpg
Digital In Arbeit

Die Krise des Sammelns

Werbung
Werbung
Werbung

Die Knaben, die mit grünem Netz und Blechtrommel bewehrt, nach Schmetterlingen haschten, sind schon lang von den Wiesen verschwunden. Keine Kulturgeschichte hat ihnen die Grabrede gehalten. Auch die Mädchen, die um Autogramme flehten, sind selten geworden. Wer gutes Porzellan besitzt, wird in schwungvollen Filmreklamen aufgefordert, seinen Schatz zu verkaufen. Das Buch ist begehrt als Arbeitsbehelf, nicht als bibliophiler Prachtband. Und in den Museen einiger Länder richtet man Wärmestuben ein, um die Illusion des Besuches aufrechtzuerhalten.

Es ist eine unbestrittene Tatsache, daß die liebenswerte Beschäftigung, Stück um Stück bestimmter Dinge zusammenzutragen, sei es aus Zeitvertreib oder zur Erinnerung, sei es aus Freude am Schönen oder aus Drang zur wissenschaftlichen Erkenntnis, nicht mehr gepflegt wird wie ehedem. Die stärkste Einbuße erlitt die eigentliche Liebhaberei, der „Sport“ des Sammelns. Aber auch das Sammeln der Wissenschaft, das — dem Homo ludens entwachsen — unter dem Befehl eines geistigen Zwecks steht, zeigt Risse, die einen hintergründigen Zusammenhang mit der Krise des Sammelsports ahnen lassen. Die übliche Erklärung für den Schrumpfungsvorgang ist jedoch ebenso oberflächlich wie stereotyp: es fehle im heutigen Klima der Not an Zeit, Geld und Möglichkeiten. Wer kann, so wird argumentiert, heute noch eine Sammlung echter Orientteppiche anlegen, wer kann in unseren Siebentagewochen der Sorgen als Sonntagsjäger noch Jagdtrophäen einheimsen, zu schweigen von den Hindernissen, die sich Sammlern von Exotica entgegen türmen!

Gewiß, der Bergrutsch bei kostspieligen und schwer zu erlangenden Objekten und auf teuren Gebieten ist nicht zu leugnen und beeindruckt natürlich am meisten. Die allenthalben zu beobachtende Baisse auf dem Markt des spekulativen Sammelns, das vom mühelosen Gewinn träumt oder die Altersrente in Sachwerten deponieren will, verstärkt die materielle Seite der Sache und gibt dem finanziellen Argument besonderen Auftrieb. Aber die Spekulation ist nur eine verschleiernde Kulisse vor dem Kulturfaktor des „echten“ Sammelns, eine nur am Wert, nicht an der geistigen und ästhetischen Seite des Objekts interessierte Angelegenheit. Man muß daher diese Kulisse wegräumen, will man sehen, was sich im Bereich der Liebhaberei und des Erkenntnisstrebens auf dem Gebiet des Sammelns abspielt.

Eine solche Betrachtung zeigt, daß sich die komplizierten Sondergebiete und die fachkundigen Kreise am besten hielten. Aber es mangelt ihnen am Entscheidenden — am Nachwuchs, am nachwachsenden Interesse. Ansonsten bieten im sozialen und psychischen Makroorganismus der modernen Massen diese kleinen Sammlerzirkel keinen Anhaltspunkt für ein kulturmorphologisches Urteil. In ihnen können sich zeitlich nicht gebundene Sonderlichkeiten entgegen den allgemeinen Strömungen lange behaupten, es ist daher nicht mit Sicherheit zu entscheiden, ob sie Relikte oder typische Vertreter der lebenden Generation darstellen.

Aufschlußreicher ist das Schicksal Jener Gebiete, die einstmals breite Volkstümlichkeit •besaßen und heute auf wenige Anhänger zusammengeschmolzen oder gänzlich verschollen sind, wie große Teile des naturwissenschaftlichen Sammelns, das ehedem so beliebte, heute praktisch vergessene Zusammentragen von Ansichtskarten, einige Teile der Numismatik usw., wobei zwischen den verschiedenen Graden des Sammelns vom jugendlichnaiven bis zum wissenschaftlich ernsten kein Unterschied gemacht werden darf. Zwar ist der Prozeß ihres Verdorrens heute nicht mehr überschaubar und nur das Ergebnis zu erkennen, aber sie machen deutlich, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht, zumindestnicht allein für die Rückbildung verantwortlich sein können, denn die meisten dieser Zweige beanspruchen keine besonderen geldlichen Mittel. Die heutigen Vergnügungen kosten mehr als zum Beispiel die Anlegung eines Herbariums. In die gleiche Richtung weist die Tatsache, daß auch valutastarke und von den Kriegen verschonte Länder von Einbußen im Sammelsport berichten. Auf der einen Seite vermerkt man eine gewisse Sättigung, wenn nicht Übersättigung, auf der anderen eine steigende Interesselosigkeit, womit man der Sache schon beträchtlich näherkommen dürfte. Auch der Zeitmangel — die Unrast unserer Tage — kann nicht als all- gemeine Ursache angefordert werden, weil er zumindest nicht für die spielerische Betätigung der Jugend gilt, die trotzdem immer weniger an der Sammelkultur beteiligt ist. Man geht nicht fehl, wenn man ein allgemeines Nachlassen des Sammelwillens überhaupt annimmt. Das verschiebt aber das Problem aus dem Rahmen einer zeitlich begrenzten Wirtschaftskrise auf die Ebene einer psychischen und geistigen Wandlung.

Besonders klar wird das am Beispiel der Philatelie. Allein der Umstand, daß das Briefmarkensammeln der letzte in den breiten Massen gepflegte Sammelzweig ist, ist schon aufschlußreich genug und mindert beträchtlich den Optimismus, der aus der Existenz der Philatelie häufig für den gesamten Sammelsport abgeleitet wird.

Das Aufschlußreiche an der Philatelie ist ihre innere Entwicklung. Das Ende ihres „Zeitalters der Entdeckungen“ und der „privaten" Sphäre des Sammelns, das den Markenliebhaber in zunehmendem Maß auf den Händler, den kostspieligen Ringtausch und die Vereinsmitgliedschaft verwies, bedeutete die Organisierung der Stunden stiller Freude. Zwangsläufig, denn die Flut der Neuerscheinungen seit 1918, die an die Stelle der funktionellen Notwendigkeit einer neuen Marke — Änderung des Portos, der Staatsform usw. — die künstliche Befruchtung des Sammeleifers setzte und damit die spekulative Entartung des Sammelobjekts begründete, kann und will vom Sammler nicht mehr bewältigt werden. Er rationalisiert das Vergnügen, das heißt er spezialisiert es auf immer engere Teilgebiete. Die Folge ist einerseits eine auf die klassische Marke aus der Zeit vor den Emissions abusives ausweichende Beschränkung des Sammlerinteresses, andererseits eine weitgehende Entartung des Sammelns selbst, die sich in einer Schematisierungder Liebhaberei nach ephemeren „Modeländern“, im vielbeklagten Sammeln nach Bildmotiven statt nach postalischen Gesichtspunkten und in einer Ausbreitung des spekulativen Sammelns äußert.

Man verschließt sich in philatelistischen Kreisen gern der Einsicht, daß auf dem letzten großen Sammelgebiet ebenfalls eine rückläufige Entwicklung zu verzeichnen ist und verweist auf den großen Aufschwung nach 1918 20. Man übersieht aber dabei, daß das damals nicht der Ausdruck eines seelischen Bedürfnisses, sondern das Ergebnis einer umfangreichen Vereins- und Spekulationspropaganda war.

Ein Blick in die Fachpresse zeigt die unausweichliche Problematik, die sich in denendlosen Diskussionen über Sinn und Zweck der Philatelie äußert. Ein Lebensgefühl unter dem Seziermesser der Selbstzergliederung ist bekanntlich nicht mehr unmittelbar, es ist brüchig. Die Rationalisierung des Sammelns und die spekulative Industrialisierung des Sammelobjekts sind tödlich, gleichgültig, ob es sich um chinesische Lackarbeiten, Sonderstempel oder alte Möbel handelt. Das erste erstick die Liebhaberfreude, das zweite kehrt den Zweck der Sache um, denn der Sammler will nicht ein ihm zu Gefallen produziertes Zeug sehen, sondern ein Stück echte Welt für sich entdecken. Er huldigt dem gleichen Lebensgefühl, das der empirischen Wissenschaft zugrunde liegt und ihre Sammeltätigkeit begründet. Ebenso zerstörend sind die Einflüsse des Organisierens und der Spekulation. Diese kommerzialisiert das Sammeln und stellt es bestenfalls der Warenhortung gleich, jenes zerbröckelt die seelische Basis. Bezeichnend dafür ist, daß alles kommerziell angeregte Sammeln — Kofferzettel! — lächerlicher Snobismus geblieben ist und alle politisch inspirierten Sammelbestrebungen — es sei an die deutschen Winterhilfsabzeichen erinnert — mit dem Wegfall des Antriebs spurlos verschwunden waren: organisierter Oberflächenanstrich ohne inneren Halt. Es deutet die geistige Kontur der Krise besonders scharf an, daß seit 1914 nur noch solcherart gefärbte Sammelzweige entstanden und — wieder verschwanden. Das alles deutet darauf hin, daß die Sammelkrise nicht eine vorübergehende äußerlich bedingte Erscheinung, sondern der Ausdruck eines viel tiefer liegenden Vorgangs, eine Wandlung des allgemeinen Lebensgefühls überhaupt ist. Da sich aber der Mensch gewöhnlich eine andere Epoche und Umwelt als seine eigene selbst erlebte nur sehr schwer vorstellen kann, wird der Einwand erhoben, daß an ein Verschwinden des Sammelsports aus allgemein menschlichen Gründen nicht zu denken sei. Diese Meinung vergißt, daß das Sammeln inder uns geläufigen Art den geschichtlichen und den außereuropäischen Kulturen ganz unbekannt und in Europa selbst sehr jungen Datums ist. Es folgte hier den dynastischen Kuriositätenkabinetten, die das Sammeln der Wissenschaft zur fürstlichen Mode machten. Aber auch dieses Sammeln der Wissenschaft ist nicht zeitlos, sondern geschichtlich. Es beginnt, von geringfügigen älteren Ansätzen abgesehen, mit dem Aufstieg der empirischen Forschung im Zeitalter des Humanismus und entspringt einer Weltbetrachtung, die die profanen Dinge der Umwelt nicht als selbstverständlich hinnimmt, sondern sie zu ent rätseln sucht und das Sammelmaterial — Steine, Daten, Sagen, Krankheitssymptome usw. — als methodische Voraussetzung der empirisch gewonnenen Erklärung benötigt.

So gesehen, ergibt sich die Frage, wie es heute mit dem Sammeln in der Wissenschaft steht. Die Antwort ist nicht schwer. Die optimale Erfassung der Objekte und Fakten auf vielen Gebieten, zum Teil auch eine beginnende Erschöpfung der physischen Forschungsmittel und eine auf große Strecken erfolgte Zerstörung der Sammelvoraussetzungen, hat die optimistische Vorstellung unbegrenzter Möglichkeiten zu Grabe getragen, die sich mit der Erschließung unbekannten Gebietes durch die wissenschaftliche Sammeltätigkeit wie mit jeder Entdeckung von Neuland zunächst verband.

Werden aber in einem Neuland die Grenzen sichtbar, dann tritt das Lebensgefühl des Entdeckens in eine Krise der Erfüllung, die Faszination der Unbegrenztheit erlischt, das breite Interesse sinkt, die restlichen weißen Flecke entrücken der allgemeinen Aufmerksamkeit, das alte Lebensgefühl muß einem neuen Platz machen.

Die Wissenschaft hebt heute — grob gesprochen — den Stein am Wege nicht mehr auf, um ihn zu sammeln, sie legt den Stein in der Kassette von einem Platz auf den andern. Und der Liebhabersammler „entdeckt“ nicht mehr seinen Gegenstand — der Gegenstand wird für den Sammler fabriziert. Was der Ernst des Erkenntnisdrangs nicht mehr besitzt, liebt auch sein Abbild im Spiel nicht mehr. Das Objekt des Sammelns wird wieder Gegenstand des Gebrauchs, allmählich aber sicher, worauf auch die wachsende Interesselosigkeit am musealen Bewahren hin deutet.

Das Lebensgefühl einer Epoche ist in seine Grenzen gewachsen, das ist wohl die tiefste Ursache der Krise der Sammelkultur unserer Tage. Die Menschheit sucht ein neues Verhältnis zur Welt. Wird es dem Materiellen zugewandt sein?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung