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Die Welt der Märchen

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Dem ersten Band seiner wertenden Rechenschaft über das von ihm begründete monumentale Sammelwerk „Die Märchen der Weltliteratur“ läßt der hochverdiente greise Gelehrte nunmehr den abschließenden zweiten folgen, der — wiederum in fünf Kapiteln — Rußland und seine Nachbarn, „Die neue Welt um das Mittelmeer“, Irland und England, den germanischen Norden und endlich das deutsche Märchen behandelt. Vorzüge und geringe Schwächen sind die gleichen wie bisher. Der Autor beschäftigt sich programmgemäß nur mit den Völkern, deren Märchendichtung in seiner Reihe vertreten ist, weshalb nach wie vor Polen, Tschechen, Madjaren, Koreaner fehlen. Das wäre nicht weiter schlimm, denn die großartige Vielfalt des durch v. d. Leyen erschlossenen Materials ist von verwirrendem Reichtum, und sie gestattet wichtige, wesentliche Erkenntnisse zu sichern, die für Literaturwissenschaft, Völkerkunde, Völkerpsychologie, Soziologie, Frühgeschichte, Religionswissenschaft, nicht zuletzt auch für den Linguisten und den Historiker von Belang sind. Bedauerlicher ist, daß der sehr geschätzte Autor erstens für seine Ausführungen über das Märchen in den einzelnen Ländern die neuere Dichtung, soweit sie in seiner Sammlung nicht erscheint, nur spärlich berücksichtigt hat; daß er zweitens bedeutende Werke der außerdeutschen Fachliteratur, mit Ausnahme der angelsächsischen und der skandinavischen, französischen und je eines, zufällig genannten russischen und irischen, im nützlichen Anhang unerwähnt läßt; daß er endlich, entgegen unsern Erwartungen, keine systematische Gliederung der Märchen dargeboten hat.

Das Märchen drängt geradezu eine Auseinandersetzung mit seinen politischen, soziologischen und philosophischen Konzeptionen auf. Sie ist in von der Leyens Buch nur verstreut vorhanden. Wie anregend wäre es aber gewesen, auch ohne in marxistische Geschichtsklitterung zu verfallen, die Spuren des Klassenkampfes zu verfolgen; auch ohne irgendwelchem Rassismus zu huldigen, die Anzeichen biologischer Animosität gegen Andersgeartete, dagegen die Bewunderung für konkrete physische Leitbilder zu zeigen! Der Kult der Dummheit, sublimiert zur Verherrlichung des reinen Toren und herabsinkend zum „Doloj gramatnyim!“, „Nieder mit den Schreibkundigen!“, der Abscheu vor der Arbeit und dann wieder deren hohe Bewertung, die Ehrfurcht vor Thronen und der Haß gegen Adel, Geistlichkeit, wohlhabende Bürger, Beamte, Gelehrte: das alles könnte Substrat reizvoller Untersuchungen sein. Zu flüchtig, zu kursorisch wird ferner über die Frage hinweggeeilt, inwieweit Märchen Ueberreste regelrechter Mythen, ja heiliger, sagen wir, Erzählungen verklun-gener Religionen sind.

Nach unserer, schon allzulangen Kritik an Einzelheiten sei dem Gesamtwerk v. d. Leyens kräftig Bei-

fall und Anerkennung ausgesprochen. Es bringt, auch in seiner, gewollten, Einschränkung auf ein von ihm souverän überblicktes Gesichtsfeld, so viel Inhalt, so viele Gedanken, daß eine Generation von Forschern daran zehren mag. Der behutsame Konservativismus des Autors bewahrt ihn vor Entgleisungen ins Phantastische, zu denen besonders die Märchenforschung verführt und die vor allem den psychoanalytisch verseuchten Interpreten der kindlichen, primitiven, volkstümlichen oder auch nur poetischen Träume von Glück und Wundern immer wieder sich ereignen. Den höchsten Wert des Buchs aber erblicken wir im Entdecken und im Aufweisen ungezählter Zusammenhänge, die den Menschengeist als einheitlich und die unsere Menschheit als eine einzige Familie dartun. Daß der Ertrag eines gesegneten Forscherlebens in einfacher und dennoch schöner Sprache geborgen ist, vermehrt unsere Freude an diesem Werk.

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