Ein Sitzer setzt sich durch

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Simplicissimus im Fernsehzeitalter: "Wie man leben soll", der neue Roman von Thomas Glavinic.

Das Motto ist von Goethe: "Wer mich nicht liebt, darf mich nicht beurteilen." Man kann es als Warnung verstehen, Thomas Glavinic' neues Buch als bloße Unterhaltung zu konsumieren, obwohl es dazu wahrlich einlädt. "Wie man leben soll" erzählt die Geschichte des Karl "Charlie" Kolostrum, der äußerlich das darstellt, was sein Name suggeriert: einen Koloss, ein Trumm. Charlie wächst in einer österreichischen Provinzstadt auf, in einer Familie ohne Männer, jedenfalls ohne Männer, die man für voll nehmen könnte. Seine Mutter ist trunksüchtig und deshalb nicht ganz zuverlässig. Seine Tante gibt ihm regelmäßig Geld. Seine Großtante tut das auch, sie ist 97 und eine wirklich patente Person.

Zwischen Katastrophen

Zwei Katastrophen der Raumfahrt geben den zeitlichen Rahmen vor, der Absturz der Challenger 1986 und jener der Columbia 2003. Zwischen diesen Eckdaten spielt sich der einigermaßen katastrophale Lebenslauf eines durchschnittlichen Helden ab. Charlie, gehandikapt, aber nicht entmutigt durch seine Leibesfülle, macht seine ersten sexuellen Erfahrungen, bringt die Schule hinter sich und studiert Kunstgeschichte, weil in dieser Studienrichtung die schönsten Mädchen anzutreffen sein sollen. Von Zeit zu Zeit passieren ihm Fehlleistungen, die Menschen seiner unmittelbaren Umgebung das Leben kosten, zum Beispiel der geliebten Großtante Ernestine. Das ist blöd, aber was soll man machen, irgendwie geht das Leben weiter. Charlie träumt davon, Sänger zu werden, und absurderweise geht dieser völlig unrealistische Traum (dem Fernsehzeitalter sei Dank) in Erfüllung.

Thomas Glavinic hat sich in diesem Buch einige literarische Muster vorgeknöpft und lustvoll mit ihnen gespielt - mit dem Entwicklungsroman zum Beispiel und der klassischen Idee vom mit sich ringenden Menschen: Da ist einer, der nicht wirklich "immer strebend sich bemüht" und zum Schluss doch erlöst wird. Sodann steht Charlie Kolostrum in der Tradition des Simplicius Simplicissimus, auch an Albert Drachs grimmig komisches "Goggelbuch" fühlt man sich erinnert: Im Schelmenroman stellt der tumbe Tor in aller Unschuld gar schreckliche Dinge an und wird dafür nicht zur Rechenschaft gezogen, stattdessen reißt ihn eine neue Wende des Geschicks mit. Nicht zuletzt persifliert Glavinic die Ratgeber-Literatur, die der Belletristik längst den Rang abgelaufen hat; "Wie man leben soll" ist schließlich eine Frage, die viele angeblich genau zu beantworten wissen.

Bei der konsequenten formalen Umsetzung riskiert der Autor einiges: Die ganze Geschichte ist nicht in der ersten oder dritten Person, sondern in der exempelträchtig unpersönlichen "man"-Form erzählt, ein Konzept, das tatsächlich über 240 Seiten aufgeht.

Nun konsumiert Charlie selbst diese moderne Variante der Ars vivendi-Literatur, er weiß also, dass er, zumindest zu 87 Prozent, zur Kategorie der "Sitzer" gehört, zu denen, die sich nicht wehren, die nie reklamieren und immer zu viel Trinkgeld geben. Er weiß auch, dass er im Nichtstun zu versumpfen droht, und beschließt, endlich Sport zu treiben, fleißig zu studieren und im Café Schiller etwas anderes zu lesen: Kant, Fromm, Nietzsche. "Nachdem man festgestellt hat, daß Kant für den Anfang zu hoch gegriffen ist, will man sofort Torte essen und ärgert sich, keinen Karl May dabei zu haben. Man geht zur Zeitschriftenablage und holt sich die Kronenzeitung. Man freut sich, die fünf Fehler im Bilderrätsel auf Anhieb gefunden zu haben, und vertieft sich in den Sportteil."

Die Komik dieses Romans - und er ist ziemlich komisch - ergibt sich auch aus der Kluft zwischen jenen hehren Zielen und den hilflosen Aufschwüngen, die zum Scheitern verurteilt sind. Und aus einem tiefschwarzen Humor, der die Unglücksfälle des Einzelmenschen ungerührt in ein großes Ganzes einordnet. Dass man den eher unsympathischen Onkel versehentlich ins Jenseits beförderte, hat etwas mit den Gesetzen der Physik zu tun. Und die lassen sich, wie die Lebensregeln der Ratgeber, einmal mehr in einem Merksatz zusammenfassen: "Merke: Wenn man durch einen Menschen Starkstrom jagt, stirbt er, auch wenn er selbst Arzt ist."

Um ernste Dinge

Gerade wenn man mit Charlie einen gewissen Stillstand in seiner gemächlich auf- und absteigenden Lebensbahn zu erleiden meint (Frauen kommen und gehen, die Sehnsucht bleibt bestehen), passiert die große Karriere, unverhofft und eigentlich auch unverdient. Jetzt wird Charlie plötzlich auch von seiner Mutter wahrgenommen. Merke: Wenn ein lustiges Buch mit einem Bussi der Mutter endet, geht es darin um die Liebe und andere ernste Dinge.

Wie man leben soll

Roman von Thomas Glavinic

Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2004

238 Seiten, kart., e 14,40

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