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„Was ist der Mensch?“

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Einer der interessantesten Denker des heutigen Deutschland, Prof. Dr. Arnold Gehlen, Speyer, sprach auf Einladung des österreichischen College und des Instituts für Gegenwartskunde im Kammermusiksaal des Musikvereins über das Thema „Was ist der Mensch?“. Gehlen ist über Europa hinaus bekannt und diskutiert worden durch sein mehrfach aufgelegtes und überarbeitetes Werk „Der Mensch“, das als einer der wichtigsten Beiträge zu einer neuen philosophischen Anthropologie angesehen werden miiß. Gehlen ist ein Denker, der sich selbstkritisch entwickelt — wir gestehen offen unsere Neugierde: Wohin ihn sein Weg führen wird, ist heute noch nicht ersichtlich. Die frühere Kritik hat Gehlen hauptsächlich einen gewissen Biologismus vorgeworfen: Er verstehe den Menschen „nur“ als ein handelndes, umweltbezogenes Naturwesen, dem durch das Fehlen der Instinktsicherheit und Instinktgebundenheit des Tieres eine Fülle von fast unübersehbaren Reizen, Möglichkeiten und Gefährdungen zuwächst. Gehlen versucht nun, in den Arbeiten der letzten Jahre das Wesen Mensch auch im Raum der Gesellschaft und der Geschichte zu begreifen. Einige glänzende Essays und das Werk „Sozialpsychologische Probleme der industriellen Gesellschaft“ bezeugen, wie stark er nun in die Auseinandersetzung mit der westlichen, französischen Forschung und Problemstellung eintritt.

Gehlen hat nun in seinem Wiener Vortrag keine „Antwort“ auf die Frage „Was ist der Mensch?“ gegeben, er hat aber eine ganze Reihe von Fragen und Fragwürdigkeiten zu bedenken gegeben, die hohe Beachtung verdienen. Nicht nur durch eine stete Herausforderung an die Metaphysiker und alle jene, die sehr gerne vom „Geist“ und vom

„Ideellen“ sprechen: Gehlen möchte mehr natuN wissenschaftliche Erforschung des Menschen sehen — und gerade diese als ein spirituelles Anliegen gewürdigt wissen. Der Mensch hat sehr viel, vielleicht mehr als man meint, mit „Geist“ und mit Geistmächten zu tun, diese erspürt man aber nicht durch ein Gerede vom Geist, sondern dadurch, daß man den konkreten Menschen erforscht. Da stellt sich bald heraus, daß etwa das Leben der „Primitiven“, in der Prähistorie ein unerhört kompliziertes Wechselspiel von Trial and Error, von vielen Versuchen, sich in einer schwierigen Umwelt zu behaupten, ist, von vielen Niederlagen, „Siegen“, Anpassungen und Abwehrmaßnahmen. Dieser Komplex der archaischen Gesellschaft wird zerstört, zerbrochen in den Vereinfachungen und Simplifikationen, oft gefährlichen Verharmlosungen der Ideologien und anderer niagisch-techni-zistischer Versuche, den Menschen und seine Probleme in den Griff zu bekommen. Selbst vereinfachend, dürfen wir Gehlens aphoristische Bemerkungen vielleicht so zusammenfassen: Die meisten idealistischen und metaphysischen Betrachtungen über den Menschen rühren gar nicht an dessen Grundprobleme, bekommen das „heile“ und unheile Sein des Menschen gar nicht zu sehen, weil sich dieses einer platonischen Schau überhaupt entzieht. Hier ist unseres Erachtens ein echter Ansatzpunkt auch für eine neue christliche Menschenkunde; leider sind die beachtlichen Ansätze einer solcher, in den Arbeiten von Eugen Rosenstock, Viktor von Gebsattel, Martin Buber, Ernst Michel, Viktor von Weizsäcker, Fritz Runkels und anderen noch kaum ernsthaft aufgenommen worden, so daß es noch geraume Zeit brauchen dürfte, bis ein Gespräch von christlicher Seite mit Gehlens offenem Rationalismus zustande kommen wird. Dies wird genau in dem Moment geschehen, in dem das christliche Denken seine ausweglose, politisierte und ressentimentgeladene Aversion gegen die Technik, die Naturwissenschaften, die Tiefenpsychologie, die Soziologie und geschichtliche Anthropologie aufgeben wird. Das Heile und der Heilige, der ganze Mensch — es ist kein ganzer Trost, daß im christlichen Raum fast nur einige Dichter sich dieser Ganzheit zu stellen wagen.

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