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Der neue Mittelstand

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Die Linzer Tagung des Wirtschaftsbundes könnte den Beginn einer neuen Orientierung der großen Oppositionspartei markieren: die Entdek- kung des „neuen Mittelstandes“ als tragenden und stabilisierenden Faktor in der sich neu gliedernden Gesellschaft

Die moderne Soziologie (Helmut Schelsky u. a.) hat festgestellt, daß sich die Gesellschaft von heute - konträr zu dem, was sich die Klassentheorie des Marxismus erwartete - in Menschen teilt, die sich vor selbständige Entscheidungen in offenen Situationen gestellt sehen und für die persönliche Verantwortung, schöpferische Arbeitsfreude, nicht immer unbedingt, aber oft auch relativ höhere Einkommen kennzeichnend sind, und andere, deren berufliche Arbeit mehr oder weniger normiert und mit weniger Prestige verbunden ist. Der Kreis der „unternehmerischen Menschen“ umfaßt nicht nur den mittelständischen Unternehmer, die freien Berufe und den erfolgreichen Landwirt, sondern auch das höhere und mittlere Management, die Beamtenschaft in Staat und Interessenverbänden, Wissenschafter, Künstler, Erzieher und Mediengestalter, aber auch hochgefragte Facharbeiter und alle diejenigen, die sich als „Funktionäre“ auf den verschiedenen Gebieten engagiert haben. Er nimmt - unbeschadet der Buntheit seiner Zusammensetzung - eine, was Lebensgewohnheiten und Lebensprobleme betrifft, immer homogener werdende Gestalt an.

Wie weit diese Gemeinsamkeit - bei aller Nebulosität, die diesem Begriff zunächst noch anhaftet - bereits in das Bewußtsein der Betroffenen eingegangen ist, läßt die Umfrage erkennen, der zufolge sich rund 70 Prozent der Bevölkerung diesem Mittelstand zugehörig fühlen, wohl herausgefordert durch die Bedrohung auf Grund der technologischen Entwicklung, der ökonomischen Gigantonomie und der rasch fortschreitenden Verbürokrati- sierung des Lebens und vor allem alarmiert als Ziel systematischer gesellschaftspolitischer Zertrümmerungstendenzen.

Die Erkenntnis, daß sich dieser Stand bisher weitgehend schweigsamer Mehrheiten oft in falschen, historisch überholten Frontenstellungen solidarisierte und nunmehr nicht nur geschloßen zur Wehr setzen, sondern in die Gesellschaftspolitik gestaltend eingreifen muß, war ein Grundton, der aufhorchen ließ. Hier scheinen nicht nur die Früchte konsequenter Arbeit einer neuen Generation konzeptiver Stabsstrategen zu reifen, die geeignet sein könnten, für die gesamte Volkspartei den gemeinsamen Nenner zu finden, den die politischen Wohlstandsjahre in Verlust geraten ließen und die Grundsatzdiskussion allmählich wieder sichtbar werden läßt; es ist offenbar gelungen, die gesellschaftliche Grundproblematik unserer Epoche politisch wieder in den Griff zu kriegen.

Tatsächlich sind heute alle tragenden Probleme solche, die die hündische Gliederung quer durchlaufen. Die hier angesprochene Gruppe sieht sich den Vermassungstendenzen ausgesetzt. Sie finanziert den modernen Wohlfahrtsstaat (nicht „die Reichen“). Sie stöhnt unter dem Zangengriff von Steuerprogression und Inflation (anders als diejenigen, die noch nicht steuerpflichtig sind, und die anderen, deren Einkommen der Höhe wegen keiner Progression mehr unterliegen). Für sie ist alles von Bedeutung, was durch weite Streuung der Eigentumsbildung ein Mehr an Freiheit, Bildung und Vorsorge bedeutet, für sie ist die „Soziale Marktwirtschaft“ die Wirt-Schafts- und Gesellschaftsordnung, deren konsequenter Ausbau ihnen Entfaltung und allen ein realistisches Ausmaß an Chancen und Sicherheit gibt.

Daß sich in dieser neuen Sicht der gesellschaftspolitischen Aufgabenstellung die innenpolitische Szenerie scharf zu polarisieren verspricht, läßt der eben publizierte „Problemkatalog“ für das neue Programm der derzeitigen Regierungspartei erwarten. Die „mehr als 60 Sozialisten, Praktiker und Theoretiker verschiedener Gebiete“, deren gesellschaftspolitische Reformideen hier zusammengefaßt werden, sehen gerade in den „mittelschichtenspezifischen“ Motivstrukturen und Wertvorstellungen den Inbegriff dessen, was ihren der Menschennatur ganz einfach widersprechenden Nivellienngs- („Gleichheits“-) Vorstellungen im Wege steht.

Eine erfolgreiche Mobilisierung des mittelständischen Menschen als des Trägers aktualisierter menschlicher Wertbegriffe und „selbständigen Problemlösers“ hat alle Chancen, sich als neue gesellschaftspolitische Kraft und als Weg in eine menschenwürdige Zukunft zu erweisen.

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