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Die Autoritätsglocke

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„Alle reden von Demokratisierung. Wir nicht, wir verhindern sie."

Diese zwar niemals laut ausgesprochene, in der Realität aber sehr effektiv gehandhabte Maxime der Wiener Rathausmehrheit ließ in Wien ein bemerkenswertes Demokratiedefizit entstehen. Allenthalben konstituieren sich daher nun Bürgerkomitees und Aktionsgruppen, die — in konkreten Einzelfällen — einer selbstherrlichen Stadtverwaltung und undurchschaubaren Ent-scheidungsprozessen an den amtlichen Leib zu rücken geloben. Egal, ob Lobau oder Sternwartepark, ob Denkmalschutz oder Fußgängerzone; die unmittelbar Betroffenen wünschen mitzusprechen und mitzuge-stalten.

In jenen Bereichen, in denen Bürger mit der Stadtverwaltung kollidieren, entstehen jene informellen Gruppen, die direkte Demokratie praktizieren. Denn die orthodoxe Methode, alle fünf Jahre durch Stimmzettel die Rathausmänner blanko mit den Agenden der Stadt zu betrauen, scheint den Aktivisten mit Wiener Erfahrungshorizont nicht sehr zielführend.

Diese Entwicklung lenkt notwendig den Blick auf die rechtliche Basis alles Wiener Tuns, auf die Wiener Stadtverfassung: Jenes sagenumwobene, von Bürgermeister Lueger geschaffene Gesetzeswerk, das jede Bürgerregung oder gar Unmut über Planungsvorhaben so lange kanalisiert und durch feinmaschige Filter leitet, bis der Wille des Wählers zwischen Bezirksvertretung und Gemeinderat, zwischen Magistratischem Bezirksamt und Bürgermeister versickert. Der Bürgermeister der Stadt Wien zieht nach dem Willen der Schöpfer der Stadtverfassung Kompetenzen, Rechte und Weisungsbefugnisse an sich, die alles unter seine Autoritätsglocke stellen: Felix Slavik Kompetenzstar — der Rathausmann mit der Bibel in der Hand — dem Brevier seines christlich-sozialen Amtsvorgängers Lueger.

Diesen Zustand zu ändern, Elemente einer direkten Demokratie in das Wiener System einzubauen, machte sich der Juniorpartner der Rathauskoalition, die ÖVP, auf. Der Erfolg blieb bis jetzt — natürlich — aus. Die VP-Initiativen verschwanden in Unterausschüssen und in deren Tischladen. Wer jedoch glaubt, daraus schließen zu können, die ÖVP-Abgeordneten verlangten Ungeheures, vielleicht sogar — horribile dictu — eine schaumgebremste Rätedemokratie, wird von der Keuschheit der Anträge überrascht. Vielmehr forderten die schwarzen Rathausmänner nur die Einführung der Briefwahl (1959), Reihen und Streichen (1964) oder etwa die Verankerung einer Fragestunde im Landtag (1961). Und genau vor neun Jahren stellten sie den nunmehr vorige Woche wiederholten „Antrag betreffend Einführung von Möglichkeiten der direkten Demokratie durch Volksabstimmung, Volksbegehren und Volksbefragung in Wien"; alles Dinge, die in anderen Bundesländern nicht nur bekannt und gesetzlich verankert, sondern sogar bisweilen praktiziert worden sind.

• Thema einer Volksabstimmung, bei der mit Ja oder Nein votiert werden kann, ist „ein einem Gemeinderatsausschuß, dem Stadtsenat oder dem Gemeinderat zur Beschlußfassung vorliegender Antrag". Eine Volksabstimmung hat stattzufinden, wenn dies entweder fünf Prozent aller stimmberechtigten Gemeindemitglieder oder mindestens ein Viertel der Mitglieder des Gemeinderates verlangen. Muß also im Falle einer Volksabstimmung bereits ein Antrag vorliegen, so wird beim Volksbegehren der Wähler selbst initiativ.

• Um nach dem ÖVP-Antrag ein Volksbegehren einleiten zu können, müssen dies entweder 20.000 Gemeindemitglieder oder 25 Prozent des Gemeinderates beantragen. Des weiteren, und gerade das ist wegen der Häufigkeit sehr wichtig, können „in Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches der Gemeinde, die diesen Bezirk betreffen", entweder fünf Prozent der Wähler dieses Bezirkes oder ein Viertel der Mitglieder der Bezirksvertretung ein Volksbegehren beantragen. Haben endlich fünf Prozent der Wiener Wähler oder „je die Hälfte der Stimmberechtigten von drei Bezirken unterzeichnet", dann ist das Volksbegehren glücklich abgeschlossen.

• Die Volksbefragung hingegen „ist vom Bürgermeister anzuordnen, wenn es mindestens fünf von hundert aller stimmberechtigten Gemeindemitglieder verlangen oder mindestens ein Viertel der Mitglieder des Gemeinderates einen diesbezüglichen Antrag stellen". Gegenstand der Volksbefragung, die auch in einzelnen Bezirken abgehalten werden kann, sind jene „Angelegenheiten, die in die Zuständigkeit eines Organs des eigenen Wirkungsbereiches der Gemeinde fallen" oder die einen Bezirk betreffen.

Für alle diese Anträge, die die autoritäre Wiener Stadtverfassung aus der Jahrhundertwende demokratisieren sollen und den abgebrochenen Kontakt zwischen Wähler und Rathaus wieder herstellen könnten, sehen die schwarzen Demokratisierer jedoch schwarz: „Das Spiel um einige Punkte der Verfassungsreform geht schon seit fünfzehn Jahren; für einen Sieg müßte neu gemischt werden."

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