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Die Kirche — Hemmschuh des Fortschritts ?

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Wie sich die Problemstellungen änderW Auf ‘dem Höhepunkt der Entwicklung des Kapitalismus wurde von Nationalökonomen (führend W. Endemann) der Nachweis versucht, daß das kirchliche Zinsverbot den schwersten Hemmschuh der Entwicklung der modernen Volkswirtschaft bildete. Katholischerseits sah man sich daher genötigt, darzutun, daß das nicht der Fall war, ja es gelang der Nachweis (Fr. Keller, Unternehmung und Mehrwert), daß die Moraltheologen des 14. Jahrhunderts bereits die Untemehmerfunk- tion entdeckt, ihre Bedeutung für das volkswirtschaftliche Gemeinwohl erkannt und damit die Berechtigung des Unternehmergewinnes gerechtfertigt hätten. Diese einzigartige Entdeckung geriet in der katholischen Sozialethik wieder in Vergessenheit unter dem Einfluß der klassischen und der ihr folgenden Marx- schen Wirtschaftslehre, die nur den Arbeitgeber (den „Kapitalisten“), nicht aber den Unternehmer und die Unternehmerleistung kannten. Eine völlige Wende in der Beurteilung des Einflusses des kirchlichen Zinsverbotes auf die Wirtschaftsentwicklung trat ein, als W. Sombart und J. M. Keynes das kirchliche Zinsverbot als ausschlaggebenden Faktor in der Wende zur modernen Kapitalwirtschaft erwiesen, da es die Unterscheidung des Ertrages von Gelddarlehen und des Ertrages von unternehmerischen Institutionen veranlaßte. Neben der Erkenntnis der Unternehmerfunktion war die des Kapitals als Produktionsfaktor, wenigstens im Prinzip, getreten. Damit entstand die Frage, woher die Kapitalbeträge für die neue Unternehmerwirtschaft stammten. Jakob Strieder, der bedeutende katholische Wirtschaftshistoriker, erbrachte den Nachweis, daß sie aus Handelsgewinnen stammten, sich also im Zusammenhang mit der Unternehmerleistung bildeten. Jakob Strieder war es auch, der den wachsenden Finanzbedarf von Staat und Kirche als mächtige Faktoren im Entstehen des Frühkapitals nachwies.

Diese Entwicklung, die „Industrialisierung“ als geschichtlichen Vorgang, verfolgt Professor Mueller aus der Perspektive der Haltung der Kirche und der katholischen Sozial- ethiker seit dem Auftreten des Frühkapitalismus bis zu den mit der

Arbeiterenzyklika (1891) einsetzenden kirchlichen Lehrschreiben zur Sozialproblematik. Die neue Situation sieht Mueller bedingt durch das Entstehen der „Gesellschaft“, nämlich der ihre Interessen verfolgenden Individuen und Gruppen, zum Unterschied vom „Staat“. Neues dürfte vielen die sachkundige Darstellung der Auseinandersetzungen der Moraltheologen des 13. und 14. Jahrhunderts mit den aufkommenden Unternehmerinitiativen bieten. Das Hauptthema bildet dann der Vergleich der Entwicklung des deutschen und amerikanischen Sozialkatholizismus. Dieser bewegt sich besonders um die beiden Hauptgestalten J. A. Ryan und Franz Hitze, bringt aber auch eine reiche Fülle von Persönlichkeiten und Ideen der Sozialreform diesseits und jenseits des Atlantik ins Bild. Professor Mueller (bekannt durch sein Hitze-Buch 1928) ist wie kein anderer zu dieser Darstellung berufen wegen seiner Verbindung mit den katholischen

Sozialwissenschaftlern und der katholischen Sozialbewegung des vornazistischen Deutschland und seiner ebenso engen Verbindung nachher mit der Entwicklung in den Vereinigten Staaten. Ein zwölfspaltiges Namensverzeichnis läßt ermessen, in welchem Ausmaß der Leser über die Entwicklungen dort und hier informiert wird. Das Buch bietet in der Tat das, was nach seinem Untertitel „Sozialer Katholizismus in den Vereinigten Staaten und in Deutschland bis zu Pius XII.“ zu erwarten ist. Wer in den dreißiger Jahren mit dem englischsprachigen Katholizismus in Berührung kam, mußte überrascht sein darüber, wie dieser in seinem Entstehen ganz durch Rerum novarum bedingt war, während der Sozialkatholizismus in Deutschland schon fast im ganzen 19. Jahrhundert am Werke war und die genannte Enzyklika wesentlich beeinflußte. Die Tatsache, daß Muellers Übersicht die einzige ihrer Art ist, zugleich ein farbiges Spektrum an informativen Einzelheiten bietet, außerdem kritisch zu sondieren weiß, dürfte dem Buch nachhaltiges Interesse und einen beachtlichen Leserkreis sichern.

KIRCHE UND INDUSTRIALISIERUNG. Von Franz H. M u eil er. Verlag A. Fromm, Osnabrück. 241 Seiten. DM 8.80.

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