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Exodus vor der Wahl

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Alles schien bestens geregelt. Es war der einzige wichtige Wahlgang Frankreichs vor den Parlamentswahlen 1973. Die Regierung bemühte sich allen Ernstes, diese Entscheidung der Bürger zu „entpolitisieren", und Staatspräsident Pompidou erklärte, daß er die Neubesetzung der Gemeinderatsstuben nicht von oben her beeinflussen werde und ihr jeden Charakter „für oder gegen das Regime" nehmen wolle.

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Alles schien bestens geregelt. Es war der einzige wichtige Wahlgang Frankreichs vor den Parlamentswahlen 1973. Die Regierung bemühte sich allen Ernstes, diese Entscheidung der Bürger zu „entpolitisieren", und Staatspräsident Pompidou erklärte, daß er die Neubesetzung der Gemeinderatsstuben nicht von oben her beeinflussen werde und ihr jeden Charakter „für oder gegen das Regime" nehmen wolle.

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Das Wahlsystem in Städten mit mehr als 30.000 Einwohnern wuidie 1965 fixiert. Mit Ausnahme von Paris ist ein Mehrtieitswahlrecht in zwei Wahlgänigen vorgesehen. Dieses von der gaiillistischen Sammelpartei UDR durchgedrückte Gesetz hat seine Urtieber keineswegs privilegiert. In bedeutenden Städten triumphierten Zentrumsilisten, die oft im Widerspruch zur UDR geboren wurden. Es zeigte sich, daß die Berufung auf de Gaulle nicht genügt hat, die Einwohner dieser oder jener Stadt vom Talent eines Bürgermeisterkan-didaten zu uberzeugien.

Bin Defferre in Marseille, Lecanuet in Rouen, Pflämlan in Straßburg, Pradel in Lyon oder Guy Mollet in Arras wurden nicht nur von der öfEentlichkeit als Parteichefs respektiert, sondern bildeten Ahr Image dank vorzüglicher Städteverwaltung. Das Regime versuchte, seine maßgebenden Funktionäre an die Spitze der Kandiiidiatenliste zu stellen und ermunterte Minister und Staatssekretäre, der Einladung lokaler Parteiorganisationen zu folgen und in der Verwaltung der Groß- und Kleinstädte die Verankerung der Mehrheit in der Nation zu demon-strierea Die Regierungsparteien gingen in scheinbarer Geschlossenheit in den Wahlkampf. Der Aufstand der orthodoxen GswlMsten gegen den Ministerpräsidenten Chia’ban-Delmas im Herbst 1970 wurde als Lappalie bezeichnet. Gemäß dem Konzept von Staatspräsident Pompidou wurde die öifnung zur linken Mitte aktualisiert, und die einstigen christlidien Demokraten sowie die rechtsstehenden Sozialisten aufgefordert, die Majorität zu bereichem. Diese innenpolitische Geste war auf die zukünftigen Parlamentswahlen ausgerichtet. Es war nicht ungefährlich, auf einer Ge-meinderatsMste von rechts bis links alle jene Persönlichkeiten zu vereinen, die zwar rricht GauHisten waren, aber doch die staatlidien Ein-

richtungen der V. Republik akzeptierten.

Dann wollten die Generalsekretäre der drei Regierungsparteien der Öffentlichkeit das Wahlprogramm der Miajoritäit vorsiteUen. Niemand erwartete einen Fehlstart. Die Regierungsmaschinerie lief wie geölt und von kleinen örtlichen Konflikten abgesehen, war die Auiswa/hl der Kandidaten, die Taktik des Wahl-fcampfes schon so oft durchdiskutiert worden, daß kein Berichterstatter irgendeine wie immer geartete Sensation entdeckte.

Wie eine Bombe schlug d^Aer die Naciiricht ein, daß der langjährige Innenminister Christian Fouchet, letzter Hochkommissar der Republik in Algerien, Urheber des nach ihm benannten Planes für eine politische Union Westeuropas und der Schwager des verstorbenen Generals, Jacques Vendroux, die gaullistische Sammelpartei verlassen hätten, womit sie gegen die Nominierung des einstigen Parteigründers der UDR und späteren Gegnens de GauUeą

Jacques Soustele, demonstrieren wollten.

Der Zeitpunkt war von den beiden Frondeuren vorzüglich gewäiilt. Sie gehören dem innersten Kreis der Gaullisten an, die mit Sorge und Mißfallen die innen- und außenpolitischen Optionen unter Pompidou verfolgten. Päpstlicher als der Papst, kritisierten sie offen oder versteckt die Initiativen des zweiten Präsidenten der V. Republik und wünschten weder eine Erweiterung der Mehrheit noch eine aktive Buropapolitik.

Fouchet veröffentlichte Anfang dieses Monats seine Memoiren, griff die Haltung Pompidous in den Maitaigen 1968 an, aber man klassdflrierte dieses Werk als ein letztes Rückzugsgefecht, bestimmt, die eigenen Positionen in der damialagen verwirrten Situation zu rechtfertigen. Der Schwager de Gaulles trat diskret gegen den europäischen Geist von Den Haag auf und beschwor die stamen Brinzapdien seines Verwanditen. Auch in diesem Fall wurde die Treue unterbewertet und niemand entnahm den Ausführungen Vendroux’ mehr als theoretische Diskuission bezüglich der Interpretierung des Erbes de Gaulles. Der Horizont über den so günstig eingeleiteten Gemeioderatäwahien verdüsterte sich. Die ersten Erd-bel>en im gefestigten Terrain der Gaulisten erschütterten die Kräfteverhältnisse imd stellen die französische Innenpolitik plötzlich vor ungeahnte Probleme.

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