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Ohne Verzicht keine Kultur

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Leszek Kolakowski, der bedeutende polnische Philosoph und Marxismuskritiker, hat sich mehr und mehr der Kultur- und Religionsphilosophie zugewandt. Seit 1970 lebt er in Oxford. Im März 1984 fand ein längeres Gespräch zwischen ihm und Gerhard Ruis im Auftrag des ORF statt. Hier ein Auszug.

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Leszek Kolakowski, der bedeutende polnische Philosoph und Marxismuskritiker, hat sich mehr und mehr der Kultur- und Religionsphilosophie zugewandt. Seit 1970 lebt er in Oxford. Im März 1984 fand ein längeres Gespräch zwischen ihm und Gerhard Ruis im Auftrag des ORF statt. Hier ein Auszug.

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Ich habe natürlich keine Theorie der Askese zur Verfügung. Dennoch bin ich an diesem Phänomen sehr interessiert. Man kann Askese in Zusammenhang der christlichen Tradition als mortificatio, als Abtötung der verschiedenen körperlichen Begierden, sehen, aber man kann sie auch in einem umfassenderen Sinne sehen, nämlich unter dem Aspekt der Spannung von Natur und Kultur im Sinne Freuds.

Nach Sigmund Freud gibt es eine unvermeidliche Spannung zwischen Natur und Kultur. Freud glaubte nämlich, daß Kultur wesentlich repressiv sei, daß das Menschsein, das kulturelle Sein schlechthin, auf der Verdrängung der Instinkte gründe, und daß keine Kultur ohne Repression existieren könnte.

In einem gewissen Sinne hat Freud recht: Kultur und Disziplin bedingen einander absolut. Das klingt zwar trivial, aber es ist so. Ich glaube, daß diese Auffassung auch übereinstimmt mit der christlichen Tradition. Die Kultur ist nach der Erbsünde entstanden.

Kultur begann nach der biblischen Erzählung mit Scham und Kleidung. Erst nach der Erbsünde entstand jenes Menschentum, das wir heute kennen, und mit ihm die. Spannung zwischen Natur und Kultur. Max Scheler hat zum Beispiel Bedeutungsvolles und Einsichtiges über das Phänomen Scham geschrieben.

Freud war sehr pessimistisch und glaubte nicht an die Aufhebung dieser Spannung, sondern vielmehr daran, daß sie ständig wachsen würde. Je mehr sich die Kultur entwickle, desto mehr Instrumente bringe sie hervor, mittels derer sie Instinkte verdrängt. Freud schien zu glauben, daß in dem Maße, in dem die Spannung wächst, auch das Ausmaß der daraus entstehenden Leiden zunimmt.

Die Menschen müßten demnach ihr Menschsein mehr und mehr als unerträglich empfinden, und die so verdrängten Instinkte würden sich in gewissen regelmäßigen Abständen in barbarischen Explosionen entladen. Aber es bleibt nach Freud dabei: die Verdrängung der Instinkte ist die Voraussetzung der Kultur.

Die Konsequenzen, die Herbert Marcuse aus der Freudschen Instinkttheorie gezogen hat, sind völlig illegitim. Permissivität ist mit der Freudschen Theorie der Instinkte unvereinbar. Marcuse, der die Freudsche Instinkttheorie anzunehmen scheint, ist der Ansicht, daß man nach Freud den Instinkten freien Lauf lassen kann, das heißt, alle Restriktionen sind aufzuheben, um dadurch eine freie Gesellschaft zu erreichen.

Das ist gewiß ein totales .Mißverständnis. Verzicht ist ein wichtiger Bestandteil menschlichen Lebens — schon aus dem einen Grunde, da die Energien des Menschen endlich sind und deswegen, wenn ich so sagen darf, „ökonomisch" verwendet werden müssen.

ökonomische Energieverteilung müßte jedem Leben eigen sein. Darin liegt nichts spezifisch Menschliches. In diesem allgemeinen Sinn ist Verzicht universell.

Aber Freud dachte natürlich an mehr als bloß an die mechanische Verteilung von Energien. Freud dachte an den Verzicht, der spezifisch mit der Kultur verbunden ist. Und ich glaube auch, daß Verzicht in einem gewissen Grade Bedingung der Kultur ist.

Gewiß müssen wir nicht den Haß des Körpers verkünden. Ich glaube auch nicht, daß das ein notwendiger Bestandteil der christlichen Zivilisation ist. Ich finde in der Botschaft Jesu Christi keinen Haß des Körperlichen — nur eine Relativierung des Irdischen angesichts des ankommenden Jüngsten Gerichtes.

Wir brauchen weder zur Sittlichkeit der Viktorianischen Epoche zurückzukehren, noch Orige-nes nachzuahmen, der sich selbst kastrierte, um so die sündhaften Triebe auszurotten.

Auf der anderen Seite teile ich das Gefühl der Bedrohung unserer Kultur, die durch die wachsende Permissität in unserer Gesellschaft gegeben ist. Ich möchte das an einem Beispiel zeigen.

Das Inzestverbof ist das allgemeinste Verbot in der Kulturgeschichte. Was würde geschehen, wenn dieses Verbot abgeschafft würde? Ich fürchte, in diesem Falle wäre zumindest unsere Kultur sehr gefährdet. Heute scheint dieses Tabu zum ersten Mal offen zu sein. Wo liegen für den Menschen die Grenzen?

Das scheinen wir nicht genau zu wissen. Die allgemeine Tendenz, jeden Verzicht als unerträglich und als unvernünftige Repression hinzustellen, die völlige Freiheit der Instinkte als absolute Regel und Normalität zu proklamieren, das würde zu einer Gesellschaft führen, in der die Prinzipien der Verantwortlichkeit vernichtet würden.

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