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Ordnung ist nicht immer Ordnung

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Mehr als eine halbe Million Menschen, so hat die westdeutsche CDU in eigenen Recherchen festgestellt, wollen so bald wie möglich die Länder, die ihnen und ihren Vorfahren zur Heimat wurden, verlassen und in die Bundesrepublik übersiedeln. Nur dort, so hoffen und glauben sie, könnten vor allem ihre Kinder wirklich menschenwürdig leben-in einer durchschaubaren, initiativen und trotz aller ihrer Mängel lobenswerten Ordung. Größere persönliche Anstrengungen warten zwar auf sie, der Staat ist nicht mehr Mädchen für alles - aber es ist dann eben ihr Staat, ihre Gesellschaft und sicherlich auch ihre Wirtschaft.

Um so mehr erstaunt war man daher anläßlich des Besuches von Jänos Kä- där, des ungarischen Parteichefs, der in Bonn wie ein Staatsführer geehrt wurde, aus dem Munde des deutschen Bundeskanzlers Schmidt zu hören, Ost und West seien als gleichgewichtige Ordnungen, wenn auch unterschiedlicher Art; zu werten. Der seit Jahrzehnten währende und noch nicht einmal auf seinem Höhepunkt angelangte Exodus der Menschen Osteuropas wird damit substantiell entwertet. Von hier bis zu dem in Hitlerdeutschland umgehenden bösen Wort von den „Beutegermanen“ ist nur ein kleiner Schritt.

Bei einem gemeinsamen Essen in Schloß Gymnich, so berichteten die westdeutschen Zeitungen übereinstimmend, stellte der Bundeskanzler „die pragmatische Zusammenarbeit der beiden Länder mit unterschiedlicher staatlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ordnung“ heraus. Sie sei zu einem Modell geworden, das zur Nachahmung auffordere. Herr Kädär wird sich, nicht nur persönlich, sondern stellvertretend für alle seine Satellitenkollegen gefreut haben, so aufgewertet zu werden, denn ebendiese Rede von zweierlei Ordnung war bisher das Trojanische Pferd, mit dem sich Osteuropas Machthaber unversehens bei Staatsbesuchen und Pressekonferenzen ihren westlichen Gastgebern empfahlen. Jetzt ist sie also auch in den Wortschatz demokratisch gewählter Staatsmänner eingegangen.

Dagegen läßt sich vielerlei sagen, vor allem aber dies: Der ideologische Kampf der Marxisten gegen den Kapitalismus geht nach ihren eigenen, wiederholt betonten Maximen, mit un- vermindeter Schärfe weiter. Die Kampfmittel wechseln, ihre Variationsbreite röicht von der wirtschaftlichen Kooperation bis zur offenen Unterstützung marxistischer Guerrille- ros. Das Ziel bleibt das gleiche: Unter Ausnützung der potenten kapitalistischen Wirtschaft die Ordung des Westens und auch von Staaten der Dritten Welt sturmreif zu machen, bis sie als Früchte vom Baum geschüttelt werden können. Für einen standfesten Marxisten gibt es außerhalb der eigenen „volksdemokratischen“ Machtverhältnisse nur Chaos, das von „Monopolherren“ und „Revanchisten“ künstlich am Leben erhalten wird und erst an den Prinzipien des Marxismus-Leninismus genesen kann.

Was zur Ordnung gerufen werden soll, eben der „chaotische“ Westen, hat sich aber mühsam und erfolgreich längst eine wirkliche Ordnung gegeben, die es täglich aufs neue zu verteidigen gilt. Herr Kädär meint anderes - was aber meinen westliche Staatsmänner, was meinte Bundeskanzler Schmidt, als er das mit Pressionen und notfalls Panzern durchgesetzte ost- europäischeMachtgefügeals Ordnung, vergleichbar mit jener der demokratischen Staaten, apostrophierte?

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