7061199-1991_37_08.jpg
Digital In Arbeit

Über das „Affische" der Literatur

Werbung
Werbung
Werbung

Unlängst hat die Marktgemeinde Perchtoldsdorf in einem Festakt das lyrische Lebenswerk des 95jährigen ehemaligen Archivars des Wiener Künstlerhauses Walther Maria Neu-wirth vorgestellt. In diesem siebenstufigen Gedichtzyklus heißt es unter anderem: „Entäffen wir uns, noch sind wir redende Tiere".

In dem fünften Band der mit sieben Bänden projektierten Gesamtausgabe von Paul Valery finden wir den Aphorismus: „Die Eindrücke eines Affen wären von großem literarischen Wert - heutzutage. Und wenn sie der Affe unter einem Menschennamen veröffentlicht, wäre er ein Genie". Es scheint so, als seien die Künste im 20. Jahrhundert in allen Sparten eifrigst bemüht gewesen, die Welt nicht unter dem Gesichtswinkel des Göttlichen oder des Humanen, sondern des vorhumanen „Äffischen" zu sehen. Und da man schwerlich annehmen kann, Paul Valery habe diese Entwicklung mit seinen Gedankenspielen ausgelöst oder gar provozieren wollen, bleibt nur übrig, die seismographische Sensibilität eines ganz großen Geistes zu bewundem. Auch noch die Launen seiner mit dem Absurden spielenden Einfälle entpuppen sich als Spürsinn für geschichtliche Notwendigkeit.

Dieser Hinweis auf die „Affenliteratur" findet sich nun freilich nicht in den Aufsätzen zur Theorie der Dichtkunst, sondern in einer Sammlung von Aphorismen, welche in den „schlimmen Gedanken gipfeln". Ist die Literatur als Ganze zum „Mauvai-se Pensee" geworden? Um sie von diesem Bannstrahl wieder zu befreien und von der „Genie-Etikette" loszukommen, die so sehr - wie Valery meint - an (viehische) tierische Qualitäten gebunden ist, sollte man sich in die wunderbaren Analysen vertiefen, welche im ersten Teil des Buches gesammelt sind.

In dem Vergleich von Prosa und Poesie summiert Paul Valery seine eigenen und die Erfahrungen großer Künstler aus ihrem Umgang mit der Sprache. Doch dieses Allerweltthema der Literaten wird bei Valery deshalb unvergleichlich und einmalig, weil er meines Wissens neben Hermann Broch der einzige Mensch ist, der seinen Geist in die „Froster-Hölle" der exakten Philosophie und Mathematik geschickt hat, um Zonen des Denkens mit dem Poetischen zu integrieren, welche der Mehrheit der Künstler und Literaten völlig verschlossen geblieben sind, obwohl die heutige Weltsicht ebenso wie deren Praxis ausschlaggebend von ihnen beeinflußt wurde.

Da diese Haltung von Pythagoras über Johannes Kepler bis zu Erwin Schrödinger so manchen Schutzpatron anrufen kann, wird deutlich, daß Paul Valery (1871-1945) außerhalb modischer Kategorien steht, was man heute zumeist mit dem Titel „Klassiker der Moderne" zu honorieren pflegt. Und dies mit Recht. Die Diszipliniertheit eines interdisziplinären Denkers macht dieses Buch zu einem Kompendium von „Denkanstößen", die aber nicht - wie zumeist bei den politischen Anstoß/lenkem - vorm Anstößigen zurückschrecken, wie ja die Bemerkung über die „Affenliteratur" eindeutig bewiesen hat.

Es ist just dieser fünfte Band, der mit seinen zumeist kürzeren Texten hervorragend geeignet ist, zu einer Persönlichkeit hinzuführen, die vielleicht mehr als andere bedeutende Geister befähigt ist, das neue Europa der Zukunft mit seiner eigenen Vergangenheit zu verbinden und auszusöhnen.

PAUL VALERY WERKE. Frankfurter Ausgabe, Band 5.: Zur Theorie der Dichtkunst und Vermischte Gedanken. Herausgegeben von Jürgen Schmidt-Radefeldt. Insel Verlag, Frankfurt/Main 1991. 537 Seiten, öS 530,40.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung