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Verirrung

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Ein Außenseiter, den vor ei­nem Monat noch niemand ge­kannt hatte, verdrängte bei den Präsidentschaftswahlen in Po­len Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki vom zweiten Platz. Lech Walesa, der Volkstribun, muß sich nun in einer Stich­wahl mit dem Millionär Stanis­law Tyminski schlagen.

Als ein polnischer Wähler im Fernsehen gefragt wurde, war­um er den Geschäftsmann aus Toronto gewählt habe, sagte er nur trocken: „Weil ich ihn nicht kenne." Tyminski ist das Sym­bol für den Polen, „der es ge­schafft hat". Ein unbeschriebe­nes Blatt, dem die Wähler mehr geglaubt haben, als dem grüb­lerischen Intellektuellen Mazo­wiecki.

Mazowiecki mußte von einer Verteidigungsposition aus agie­ren. Lech Walesa hatte keine Skrupel, den einstigen Kampf­gefährten zu attackieren, und erst in der letzten Phase des Wahlkampfes, als Tyminski sichtlich Terrain gewann, wur­den die Töne moderater.

Offener und versteckter An­tisemitismus spielten auch eine Rolle bei diesem Wahlkampf. Mazowiecki-Plakate wurden mit antisemitischen Parolen be­schmiert und Walesa bekräftig­te immer wieder, daß er ein hun­dertprozentiger Pole sei. Das habe aber nichts damit zu tun, sagte er in einem Interview, daß ein Priester in einem Warschau­er Vorort seine Gläubigen auf­forderte, einen „wirklichen Po­len zu wählen und keinen Ver­treter einer nationalen Minder­heit". Da wird man an Wahl­kämpfe in Österreich erinnert, als Josef Klaus als „echter Österreicher" gegen Bruno Kreisky propagiert wurde.

Der Antisemitismus hat in Polen Tradition. Claude Lanz­mann hat in seinem Film „Shoah" allzu vereinfacht den Polen vorgeworfen, sie hätten in der Nazi-Zeit den Judennicht geholfen. Da gibt es Gegenbei­spiele: Etwa Wladyslaw Bar-toszewski, zur Zeit polnischer Botschafter in Wien.

Aber noch immer gibt es in Polen einen christlichen Anti­semitismus. Dazu kommt, daß die Mehrheit der Juden wäh­rend der Teilungen des Landes selten daran dachte, die Idee eines selbständigen Polen zu verfechten. Nach dem Krieg wiederum gab es in den kom­munistischen Führungskadern einzelne Juden, die in Moskau geschult worden waren. Alles das aber ist keine plausible Begründung für die Wellen des Antisemitismus, wie sie etwa 1968, gezielt gelenkt, über das Land schwappten. Es ist ein Antisemitismus ohne Juden, ein Phänomen für Soziologen.

Andrzej Szczypiorski hat die besondere Irrationalität dieses Antisemitismus der Nach­kriegszeit in Polen als geistige Verirrung und eine Art Schi­zophrenie geschildert: „Man bürdete das Judentum Men­schen auf, die nie Juden gewe­sen waren... Jude war jeder, dernichtgefiel, dem man einen politischen, einen moralischen Vorwurf machen konnte."

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