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„Verstehen, was Sacharow will“

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Wenn totalitäre Regime internationale Kongresse veranstalten, so verfolgen sie damit regelmäßig politische Ziele. Auch der XV. Weltkongreß für Philosophie, der kürzlich in Varna, Bulgarien, stattfand, muß als ein taktisches Manöver im Rahmen einer wohlüberlegten politischen Strategie verstanden werden.

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Wenn totalitäre Regime internationale Kongresse veranstalten, so verfolgen sie damit regelmäßig politische Ziele. Auch der XV. Weltkongreß für Philosophie, der kürzlich in Varna, Bulgarien, stattfand, muß als ein taktisches Manöver im Rahmen einer wohlüberlegten politischen Strategie verstanden werden.

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Das politische Konzept ergibt sich aus der Situation, in der sich die kommunistischen Länder, insbesondere auch die Sowjetunion, derzeit befinden: Wirtschaftliche Rückschläge und Schwierigkeiten fallen mit oppositionellen Aktivitäten breiter Intellektuellenkreise zusammen und schaffen Voraussetzungen für Vorgänge, analog jenen, die seinerzeit zum „Prager Frühling“ geführt haben.

Nach den offensichtlichen Plänen des kommunistischen Establishments soll die außenpolitische und wirtschaftliche Konsolidierung des Sowjetsystems mit Hilfe der Europäischen Sicherheitskonferenz erreicht werden. Die ideologische Konsolidierung sollte dann offenbar der Weltkongreß der Philosophie bewirken. Dieser Kongreß mußte den Triumph des Marxismus-Leninismus vor aller Welt sichtbar werden lassen und sollte vor allem auch den aus dem Ostblock selbst kommenden, etwa 1200 Denkern die Überzeugung vermitteln, daß der Dialektische Materialismus die siegreiche Geistesmacht der Gegenwart sei, gegen die zu opponieren weder Sinn noch Erfolg haben könne. Der Kongreß sollte also im wesentlichen auf den kommunistischen Innenbereich wirken.

Den Vertretern aus den westlichen Ländern war diese Strategie gewiß nicht klar und bewußt. Es wurde jedoch begriffen, daß zwischen dem

XV. Weltkongreß der Philosophie und der Europäischen Sicherheitskonferenz ein innerer Zusammenhang bestand, der sich insbesondere darin zeigte, daß auf der letztgenannten Konferenz das Ringen um die Liberalisierung des Austauschs von Informationen und Ideen eine so wesentliche Bedeutung erlangt hatte und mit soviel beiderseitigem Engagement geführt wurde.

Der Kongreß in Varna bot die Möglichkeit, eine Liberalisierung dieser Art für den Bereich der Wissenschaft, der Philosophie und auch der Ideologie zu erzwingen.

Um diese Chance aufzugreifen, erhob der Autor auf der Plenarver-sammlung am zweiten Konferenztag die Forderung nach der „Ideologischen Koexistenz“ und regte an, der Kongreß solle diese Koexistenz zur Maxime der internationalen Zusammenarbeit erklären, der Zusammenarbeit in einer Welt, die die Einheit suche, weil sie nur dann den Frieden finden könne. Diese Initiative geschah aus einem wohlüberlegten Grund. Die offizielle sowjetische Sprachregelung lehnt die „Ideologische Koexistenz“ ab.

Der sowjetische Chefideologe Suslow hatte hiezu noch Mitte Juli dieses Jahres ein schroffes „Njet“ ausgesprochen. Durch die Forderung nach der „Ideologischen Koexistenz“ wurde der Kongreß gleichsam unter Druck gesetzt. Einerseits konnten die russischen Vertreter nicht gegen

Suslows These stimmen, anderseits konnte ein Weltkongreß der Philosophie die ideologische Zusammenarbeit nicht ohne weiteres verwerfen. Über dieses Problem wurde dann lange diskutiert. Der Kongreß fand schließlich eine salomonische Lösung. Der neu gewählte Präsident der FISP, Ganovski, bekannte sich in seiner Schlußansprache zur Koexistenz der Systeme mit verschiedenen Gesellschaftsordnungen und fügte hinzu, die Verschiedenheit der Ideen solle kein Hindernis für weitere Zusammenarbeit sein. Er hat damit die ideologische Koexistenz akzeptiert, ohne jedoch dieses Reizwort auszusprechen. Damit war aber ein entscheidender Beitrag zu dem auf der Europäischen Sicherheitskonferenz zur Debatte stehenden Problem einer Liberalisierung des Austauschs von Ideen und Informationen geleistet.

Das Ziel der kommunistischen Politstrategen, den dialektischen Materialismus als die siegreiche Philosophie oder Ideologie in Erscheinung treten zu lassen, sollte offensichtlich auch durch die quantitative Überlegenheit der Denker aus den Ostblockländern gesichert werden. Von den zirka 2000 registrierten Teilnehmern kamen etwa 1200 aus den Ländern des sozialistischen Lagers. Da unter den westlichen Teilnehmern aber auch Begleitpersonen mitgerechnet waren, ergab sich in den Diskussionen und in den Arbeitsgruppen ein Zahlenverhältnis von etwa einem westlichen gegen zwei bis drei östliche Diskussionsteilnehmer. Jedem Votum eines Vertreters aus einem westlichen Land wurde durch mehrere Diskussionsteilnehmer aus kommunistischen Ländern widersprochen. Dies ergab

schon ein quantitatives Übergewicht der kommunistischen Meinungen und Argumente.

Freilich war diese Strategie auch zweischneidig. Wenn es westlichen Thesen und Argumenten gelang, die 1200 Teilnehmer aus den Ostblockländern zu verunsichern, dann kehrten eben nicht 1200 Zeugen eines Triumphs für den dialektischen Materialismus, sondern 1200 Zweifler in ihre Heimatuniversitäten und Institute zurück.

Die Chance, die Teilnehmer aus den Ostblockländern zu verunsichern, war freilich nicht allzu groß. Die Mehrzahl dieser Teilnehmer er-

wies sich als indoktriniert und in einer Weise programmiert, daß sie unfähig war, Gedankengänge nachzuvollziehen, die dem ihr eingeimpften Dogma widersprachen. Das galt aber nicht für alle. Eine Reihe von Teilnehmern aus Jugoslawien, Polen, Rumänien, Bulgarien, aber auch der Sowjetunion selbst erwiesen sich als durchaus empfänglich für die Gedankengänge westlicher Denker. Insbesondere in der Frage des Menschenbildes, der Freiheit, der Würde, der Selbstbestimmung und der moralischen Autonomie des Menschen blieben die Argumente, die von westlicher Seite vorgetragen wurden, nicht ohne spürbare Wirkung. Die „Revolution des Personalismus“, die Michailo Michailov in seinem Buch „Moskauer Sommer 1964“ für den Kommunismus prophezeite, hat hier offenbar schon Vorläufer. Diese Entwicklung hat der Philosophenkongreß aber nicht unwesentlich gefördert und beschleunigt. Die mehrfach aufgeworfene Frage, ob für den Menschen die Gesellschaft oder das Gewissen die letzte Instanz sei, hat auch sture Marxisten zum Nachdenken gezwungen. Die Argumente, die sie im Rahmen der Diskussionen über diese Frage zu hören bekamen, werden ihnen noch lange in den Ohren klingen. Viele von ihnen werden erst jetzt verstehen, was Sacharow und Solschenyzin eigentlich wollen.

Abschließend wird man also sagen können, daß das strategische Konzept, das die kommunistischen Planer mit dem XV. Weltkongreß der Philosophie verwirklichen wollten, nicht oder gewiß nicht zur Gänze aufgegangen ist. Die zentral gesteuerten Massenmedien der Ostblockländer werden den Kongreß zwar als großen Sieg des Marxismus-Leninismus feiern — längerfristig gesehen, wird dieser Kongreß aber genau die entgegengesetzten Wirkungen haben.

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