Javier Milei - © Foto: IMAGO / Esteban Osorio

Javier Milei: Der Donald Trump von Buenos Aires

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Am 22. Oktober könnte der Rechtspopulist Javier Milei Argentiniens neuer Präsident werden. Eine Wahl zwischen Demokratieverdruss, Protest und Hoffnungslosigkeit.

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Am 22. Oktober könnte der Rechtspopulist Javier Milei Argentiniens neuer Präsident werden. Eine Wahl zwischen Demokratieverdruss, Protest und Hoffnungslosigkeit.

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Mit wilder Rockmusik und schwarzer Lederjacke springt Javier Milei in Buenos Aires auf die Wahlkampfbühne. Wie in Ekstase läuft er hin und her. Im Hintergrund prangert das Logo eines Löwen. El León, der Löwe, ist sein Spitzname.

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Löwenartig ist nicht nur seine wilde Mähne, auch seine aggressive Rhetorik: „Verdammte politische Kaste“, brüllt er ins Mikrofon. Seine politischen Gegner verteufelt der wortgewandte Rechtspopulist hemmungslos als „Drecksäcke“ und „Parasiten“.

Er nimmt sich kein Blatt vor den Mund. Der Staat und die traditionellen Parteien bezeichnet er als „kriminelle Mafia“ und „Krebsgeschwüre“. Gelegentlich nimmt der 52-jährige Single sogar eine Motorsäge mit auf die Bühne, um zu zeigen, was er mit der bisherigen Politik machen werde, sollte er an die Macht kommen.

Und das könnte schon bald der Fall sein. Denn der polemische Shooting-Star könnte Argentiniens neuer Regierungschef werden. Bis vor Kurzem war Milei noch ein politisch eher unbedeutender Außenseiter. Erst im Juli 2021 gründete er seine rechtsextreme Parteienallianz „La Libertad Avanza“ („Die Freiheit schreitet voran“), die lediglich mit drei Abgeordneten im Parlament in Buenos Aires vertreten ist. Doch bei den Präsidentschaftswahlen am 22. Oktober gilt er als der große Favorit.

Klimakrise: „sozialistische Lüge“

Milei ist eine Art „argentinischer Trump“, der so ziemlich alle Klischees erfüllt, die man über Rechtspopulisten nur haben kann. Der anti-feministische Gender-Gegner verherrlicht die frühere Militärdiktatur, fordert ein Recht auf Waffen zur Selbstverteidigung und will Abtreibungen verbieten. Kommunismus und Sozialismus seien „auszurotten“. Die Klimakrise bezeichnet er ganz im Stil des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump plump als eine „sozialistische Lüge“.

Milei hat sich im rechten Lager Argentiniens seit Jahren einen Namen gemacht. Nicht im Parlament, sondern als Wirtschaftsexperte in TV-Talkshows. Als Ökonom tingelte der Sohn eines wohlhabenden Busunternehmers durch alle Talkshows, die ihn einluden. Und das waren mit der Zeit viele. Denn mit seinen cholerischen und extravaganten Auftritten, bei denen er sich oftmals als Batman verkleidete, sorgte er beim trockenen Thema Wirtschaft für beste Unterhaltung und Quoten.

Lateinamerikas Rechtspopulisten wie Bolsonaro und jetzt Milei punkten sogar mit Nostalgie an die Militärdikaturen.

Jetzt feiern ihn die Massen auf seinen Wahlkampfmeetings wie einen Rockstar. Nicht weil die Mehrheit sein radikales politisches Gedankengut komplett teilen würde. „Sein Erfolg basiert vielmehr auf seinem Image eines politischen Rebellen, der mit der bisherigen Politik und Parteien bricht und aufräumen will“, erklärt Tomás Múgica, Soziologe an der katholischen Universität von Buenos Aires.

Múgica spricht von einer Art Protestwahl: „Die Menschen sind unzufrieden und enttäuscht von den traditionellen Parteien, die seit Jahrzehnten die wirtschaftliche und nun auch humanitäre Krise nicht in den Griff zu bekommen.“

Argentinien leidet seit Jahren unter einer Hyperinflation von mittlerweile 140 Prozent. Mit schweren sozialen Auswirkungen: Rund 40 Prozent der knapp 46 Millionen Argentinier arbeiten zu Dumpinglöhnen teils in der Schattenwirtschaft – und leben bereits unterhalb der Armutsgrenze. Zugleich verschwindet nach und nach die Mittelschicht. Die Inflation frisst die Löhne, Renten und selbst die mickrigen staatlichen Sozialhilfen wieder auf. Kritiker bezeichnen die Sozialmaßnahmen der seit fast 20 Jahren regierenden linken Peronisten abfällig als „Armuts-Management“.

Milei gewinnt über seine große Präsenz in sozialen Netzen nicht nur junge Menschen für sich. Die Oberschicht sieht in ihm den Kapitalisten und Verfechter einer freien Marktwirtschaft. Und die Armen erhoffen sich von ihm, dass er die Wirtschaftskrise wieder in den Griff bekommt.

In den vergangenen Jahren hat sich viel Frust bei den Menschen über die hiesigen Parteien und Regierungen aufgestaut. Vetternwirtschaft und Korruptionsskandale in beiden großen Volksparteien machen den Verdruss über die Demokratie nur noch größer. „In einer solchen Situation tendieren die Menschen derzeit dazu, die traditionellen Parteien aus Protest und Wut nicht nur abzustrafen, sondern wollen auch neue Lösungsvorschläge abwägen“, erklärt Soziologe Múgica.

Und neue, wenn auch radikale wirtschaftliche Lösungsvorschläge bietet der Ökonom Javier Milei, der sich selbst als „Anarchokapitalist“ bezeichnet. So will er die Zentralbank abschaffen und den US-Dollar als Währung einführen. Die öffentlichen Ausgaben sollen radikal gekürzt und das Bildungs- und Gesundheitssystem privatisiert werden.

Staat: „kriminelle Organisation“

Bevor er Steuern erhöhe oder einführe, würde er sich „eher einen Arm abhacken“, so Milei. Für ihn seien der Kapitalismus und eine extrem freie Marktwirtschaft die Lösung für die galoppierende Inflation. Den Staat sieht Milei als eine „kriminelle Organisation“, die von den Steuern lebe und das argentinische Volk ausraube. „Wir geben das Geld zurück, das die politische Kaste gestohlen hat“, lautet seine Devise.

Das kommt bei vielen gut an. Auch Susana Aramayo wird dem Rechtspopulisten am Sonntag ihre Stimme geben. „Wenn es die anderen nicht schaffen, sollte man ihm die Möglichkeit geben, es auf einem anderen Weg zu probieren“, meint die Argentinierin. In La Quiaca, im äußersten Nordwesten des Landes an der Grenze zu Bolivien, unterhält Aramayo seit über 20 Jahren eine kleine Bäckerei. „Ich weiß aber nicht, wie lange noch“, meint sie. Mehl, Zucker, Fette – alles werde unbezahlbar. Kostete ein 50-Kilo-Sack Mehlvor sieben Monaten noch 1000 Peso, sind es heuer 4000. Auch Miete und Strom könnte sie im Zuge der Hyperinflation kaum noch begleichen. „Ich kann diese Preissteigerungen aber nicht auf unsere Produkte umlegen, weil dann niemand mehr mein Brot kaufen könnte“, versichert sie.

Die Inflation ist in Argentinien zum sozialen Sprengstoff geworden. Fast wöchentlich finden in der Landeshauptstadt Buenos Aires Massenproteste statt. Dieser Frust über die wirtschaftliche Situation ist der Nährboden für Populisten wie Javier Milei. „Zumal viele Menschen sich in unsicheren Krisenzeiten wie diesen auch eine autoritäre Hand wünschen“, erklärt Soziologe Tomás Múgica.

Der ständige Wechsel zum einen oder anderen politischen Extrem ist auch in anderen Ländern Lateinamerikas zu beobachten, wo die soziale Ungleichheit und Armut großer Bevölkerungsschichten stetig zunimmt. So wurde etwa in Chile vor zwei Jahren der rechtskonservative Sebastián Piñera vom ehemaligen linksextremen Studentenführer Gabriel Boric abgelöst. Einst als Hoffnungsträger für einen Wandel gefeiert, hat Boric nach Skandalen und Missmanagement viele enttäuscht. Bei den Regionalwahlen im kommenden Jahr könnte er bereits seinem zukünftigen rechtsextremen Herausforderer, José Antonio Kast, Sohn eines NS-Leutnants der deutschen Wehrmacht, unterliegen.

„Verdammte politische Kaste"

In Kolumbien folgte auf den Rechten Iván Duque mit Gustavo Petro ein ehemaliger linker FARC-Guerillero im Amt des Staatschefs – mit mäßigem Erfolg. Brasilien hat seit Anfang des Jahres mit Alt-Präsidenten Lula da Silva wieder einen linken ehemaligen Gewerkschaftsführer an der Macht. Doch sein rechtsextremer Vorgänger Jair Bolsonaro hatte die Wahlen nur knapp verloren und wird immer noch von großen Bevölkerungsteilen unterstützt.

Lateinamerikas Rechtspopulisten wie Bolsonaro und jetzt auch Milei in Argentinien punkten bei der verzweifelten Bevölkerung sogar mit der Nostalgie an die ehemaligen Militärdiktaturen. Ihr Argument: Früher funktionierte alles besser, gab es weniger Korruption und weniger Kriminalität.

Natürlich würden sie niemals öffentlich zugeben, die Demokratie abschaffen zu wollen. Doch zweifellos destabilisieren sie das demokratische Gefüge von innen. Das wurde einmal mehr klar, als Bolsonaros Unterstützer – ganz im Stil der Trump-Anhänger und deren Sturm aufs Kapitol in Washington Anfang 2021 – am 8. Jänner dieses Jahres das Regierungsviertel in Brasilia einnahmen, um eine „kommunistische Diktatur“ zu verhindern.

„Verdammte politische Kaste“, „nutzlose, parasitäre Politiker“, schreit Milei von der Wahlkampfbühne in Buenos Aires – und tausende Anhänger bejubeln ihn.

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