ÖVP in der Sackgasse?

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Die große Koalition ist für die ÖVP und für die österreichische Demokratie eine Sackgasse.

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Die große Koalition ist für die ÖVP und für die österreichische Demokratie eine Sackgasse.

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Gerade rechtzeitig vor der Nationalratswahl legt der langjährige ÖVP-Politiker Herbert Kohlmaier, der seiner Partei in vielen Funktionen diente, dann Volksanwalt war und sich von der Partei emanzipierte, ohne ihr untreu zu werden, eine Art Bilanz seiner Überlegungen vor. Es ist für mich Genugtuung, ein Buch rezensieren zu dürfen, das sich in Titel und Untertitel bewußt an meine vor Jahresfrist veröffentlichte "Elegie auf Rot" anlehnt. Die Parallele zwischen den beiden Konfessionen erschöpft sich aber nicht in der Wahl der Titel, sondern geht tief in das Inhaltliche hinein. Beide Betrachtungen sind der Sorge um die eigene Partei und der österreichischen Demokratie entsprungen und verstehen sich als Beiträge zu deren Erneuerung.

Gleich mir erblickt Kohlmaier im Wahlrecht die Wurzel des Übels und hält es für den Hebel, an dem eine Veränderung ansetzen muß. Österreich hat für zwei annähernd gleich starke beziehungsweise schwache Parteien, wie sie SPÖ und ÖVP darstellen, ganz einfach das falsche Wahlrecht. Es wäre die historische Pflicht der zwei Regierungsparteien gewesen, dafürzu sorgen, daß sie nacheinander und nicht nebeneinander regieren und sich den Staat als Beute aufteilen.

Österreich hat nach Analyse von Kohlmaier-Leser nicht nur das falsche Wahlrecht, das vor lauter Gerechtigkeit die Regierungsfähigkeit erschwert, sondern auch das falsche Regierungssystem. Die große Koalition ist sowohl für ÖVP als für die österreichische Demokratie eine Sackgasse, ja eine Konstruktion, die die Demokratie in Frage stellt, indem sie keinen Wechsel und keine Ablösung ermöglicht. Daß eine permanente Koalition eine starke Oppositionsbewegung mit demagogischen Zügen heraufbeschwören mußte, liegt auf der Hand.

Noch ist die Fortsetzung der großen Koalition nach den Wahlen nicht ausgemacht. Das Wahlergebnis könnte eine Neuauflage derselben, ohne Aufgabe der Selbstachtung einer der Parteien, nicht mehr zulassen. Jedenfalls ist es bedenklich, wenn sich beide Parteien unter allen Umständen an die Macht klammern und es als Zumutung statt als notwendige Funktion empfinden, in den sauren Apfel der Opposition zu beißen statt ins Gras.

Kohlmaier schöpft aus reicher Erfahrung, und man kann seine Besorgnisse nicht als Frustration eines Außenseiters abtun. Wenn er die ÖVP als eine "Partei ohne Solidarität und Kampfgeist" charakterisiert und ihr das Schicksal der italienischen Democrazia Cristiana als eine Perspektive an die Wand malt, sollten ihm die ÖVP und besorgte Demokraten über alle Lager hinweg dankbar sein.

Kohlmaier ist aber nicht nur engagierter homo politicus, sondern auch treuer Sohn der katholischen Kirche. Nicht nur Kohlmaier sieht einen engen Zusammenhang zwischen dem Niedergang seiner Kirche und dem der ÖVP. Vor allem kreidet er dem jetzigen Papst an, daß er unbedingten Gehorsam verlangt und damit gegen ein Grunderfordernis moderner Wirklichkeit verstößt. Mit dieser Aussage knüpft Kohlmaier an beste Traditionen des Sozialkatholizismus an. Ich fühle mich an meinen verehrten verewigten Lehrer, Professor August Maria Knoll, erinnert, den an der Kirche schon damals störte, daß die Liebe als die christliche Haupttugend hinter dem Gehorsam zu stehen kommt. Knoll und andere setzten große Hoffnungen auf das II. Vatikanische Konzil. Wie enttäuscht wären sie, wenn sie miterleben müßten, wie der Geist des Konzils einem servilen Dogmatismus geopfert wird.

Kohlmaier wäre kein Christ, wenn er nicht die Hoffnung aufrechterhielte, daß sich die Dinge in Staat und Kirche zum Besseren wenden. Freilich ergeben sich diese Wende und Rückbesinnung nicht von selbst, sondern bedürfen der Anstrengung aller Gutgesinnten. Trotz aller Klagen verfällt der Autor nicht in einen unfruchtbaren Kulturpessimismus, sondern appelliert an alle, aus begangenen Fehlern zu lernen und sie nicht in ein neues Jahrtausend fortzuschleppen.

Der Autor ist Professor für Philosophie an der Universität Wien.

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