Vergewaltigung oder Befreiung?

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Für Europa stehen zwei Geschichten. Die eine, die antik-griechische ist die bekannte. Es ist eine Vergewaltigungsgeschichte: Zeus raubt in der Gestalt eines Stieres die Jungfrau Europa, vergewaltigt sie.

Die andere ist eine Befreiungsgeschichte, sie ist wenig bekannt, und steht in der Bibel: Paulus betritt erstmals europäischen Boden und befreit ein Mädchen von seinem Wahrsagegeist und damit von ihren Herren, die an der Wahrsagekunst der Sklavin gut verdient haben. Es ist wohl kein Zufall, daß diese Geschichte so wenig bekannt ist, und auch im Zusammenhang der EU nie genannt wird.

Beide Geschichten stehen für Projekte. Natürlich lassen sich die verschiedenen Optionen, vor denen die EU steht, und zwischen denen sie (jetzt unter österreichischem Vorsitz) zu entscheiden hat, nicht einfach unter diese beiden Bilder rubrizieren. Die Probleme sind sehr komplex und erlauben keine Simplifizierung. Aber: ob Europa die Gegensätze - zwischen reich und arm, in den europäischen Ländern selbst, zwischen den Staaten Europas und global - verschärft oder nicht; ob es gelingt, die Arbeitslosenzahlen zu reduzieren; ob das Migrationsproblem bewältigt wird; ob ökologisch das Überleben der zukünftigen Generationen gesichert werden kann; wie schließlich die gemeinsame Verteidigungspolitik aussehen wird, hier überall gibt es Optionen, die entweder in Richtung der einen oder der anderen Geschichte tendieren.

Dabei sind wohl nicht die erklärten Absichten entscheidend. Erklärt wird ja viel: daß Europa nicht nur ökonomisch zu verstehen sei, daß es eine Seele habe und ihm diese Seele gegeben werden müßte ... Alles, was gut und wünschenswert ist auf der Checkliste der Zukunft, findet sich in den Erklärungen. Es ist wohl auch so, daß nur das vereinte Europa in der Lage ist, entscheidende Weichen zu stellen. Aber ob tatsächlich die Fähigkeit besteht, wirklich umzusetzen, was als Ziel versprochen wird, ist die Frage. Selbst das ist nicht klar, ob die nationalen Politiken verstehen, was in Brüssel vorgedacht wird.

Vergewaltigungen haben häufig etwas zu tun mit der fehlenden Phantasie zur Befreiung.

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