7. Oktober: Das Versagen der Intellektuellen
Nach den Hamas-Pogromen sind die aktuellen Diskussionen um die Geschehnisse von Sätzen wie „Ja, aber Israel hat doch …“ geprägt. Derartige Rede zeugt vom Fehlen der erinnerungsbegabten Vernunft.
Nach den Hamas-Pogromen sind die aktuellen Diskussionen um die Geschehnisse von Sätzen wie „Ja, aber Israel hat doch …“ geprägt. Derartige Rede zeugt vom Fehlen der erinnerungsbegabten Vernunft.
Leid macht sprachlos. Auch dann, wenn wir es empathisch antizipieren und deshalb ansatzweise mitempfinden. Religiöse Menschen ringen denn auch mit dem allmächtigen und barmherzigen Gott, der – warum nur? – dieses Leid zulässt. Gott scheint im bodenlosen Abgrund des Leids zu verschwinden, ganz besonders dann, wenn es andere Menschen mit roher Gewalt verursachen. „Gott um Gott zu bitten“ ist dann die letztmögliche Geste des betenden Menschen, mit der er sein Gottvermissen ausdrücken und die er seiner Ohnmacht entgegensetzen kann.
Obige Gebetsformel stammt von Johann Baptist Metz (1928–2019). Er setzte sich als Theologe dafür ein, dem Holocaust, dem niederdrückenden, ungerechten Leid unschuldiger Menschen, in Theologie, Kirche und Gesellschaft ein Gedächtnis zu geben. Dieses führte Metz zur Skizze einer erinnerungsbegabten Vernunft, die von „der Erinnerung des Leidens der Anderen“ geleitet wird. Im Buch Memoria passionis (2006) entfaltet er auf ihrer Grundlage Konsequenzen für die Geisteswissenschaften und die Ethik. Die darin enthaltene kritische Analyse scheint heute aktueller denn je zu sein: Sie erklärt nämlich die Kälte, mit der viele – auch gebildete! – Menschen in Europa und den Vereinigten Staaten auf das grausame Foltern und Töten unschuldiger Menschen durch die Hamas am 7. Oktober reagierten.
Und wieder Antisemitismus
Beatrice Frasl schrieb dazu am 27. Oktober unter „Was gesagt werden muss“ auf wienerzeitung.at, man müsse genau hinsehen, „welche Ideologien es sind, die ihre Anhänger:innen dazu bringen, Massenmord an Jüdinnen und Juden zu feiern oder die es ihnen nicht möglich machen, diesen klar zu verurteilen“. Allerdings nennt sie die „Theorien und Pseudotheorien“ nicht beim Namen und führt stattdessen Antisemitismus als pauschale Erklärung an. Beide, Theorien und Antisemitismus, könnten aber durchaus zusammenspielen:
Der Literaturwissenschaftler George Steiner (1929–2020) war überzeugt, dass der Antisemitismus in westlichen Ländern älter ist als die antijüdische Christus-Konstruktion heidenchristlicher Gelehrter, die Wolfgang Treitler jüngst in der FURCHE diskutierte . Die Geschichte der Verfolgung von Juden führt Steiner darauf zurück, dass diese in ihrem Monotheismus und seiner Ethik Gott erzählend aufgewertet haben. Nichts nähre in uns „einen tieferen Hass als die uns aufgezwungene Einsicht, dass wir unzulänglich sind, dass wir Ideale verraten, deren Gültigkeit wir in vollem Umfang“ anerkennen. Jüdinnen und Juden erinnerten durch ihre Existenz immer wieder an die „alten Gebote der Vollkommenheit, der Selbstaufhebung, die Forderung eines Reiches absoluter Gerechtigkeit hier und jetzt.“ (Errata, 1997)
Ein auf diese Weise motivierter Antisemitismus ist mit jenen wissenschaftlichen Konzepten kompatibel, auf die Frasl mit der Forderung hinweist, dass wir uns „die Wahrheit nicht nehmen lassen“ dürfen. Es sind dies dierelativistischen Ansätze, die den aktuellen geisteswissenschaftlichen Diskurs dominieren und deren gemeinsames Paradigma darin besteht, Absolutes abzulehnen – auch als Orientierung stiftenden Fluchtpunkt. Sie degradieren die Wahrheit zu konstruierten, beliebigen Wahrheiten und die jüdisch-monotheistische Rede von Gott zur Fiktion.
Das Paradigma des Relativismus prägt jedoch nicht nur konkrete Theorien. Wissenschafterinnen und Wissenschafter übernehmen es häufig unreflektiert als persönliche Weltanschauung. Das liegt daran, dass es uns schwerfällt, Mehrdeutigkeit auszuhalten – in diesem Fall in Form des Pluralismus methodenspezifischer Perspektiven. In weiterer Folge tragen Wissenschafter vereindeutigte Weltanschauungen in die Gesellschaft: zum Beispiel den Sozialkonstruktivismus, mit dem sich etwa häufig Kulturanthropologinnen und -anthropologen identifizieren.
Weltanschauung Relativismus
Johann Baptist Metz hat in Memoria passionis darauf aufmerksam gemacht, dass in den Geisteswissenschaften „die Lebenswelt in die Wissenschaften“ hineinragt und dass Wissenschaft „immer auch ein geschichtlich-gesellschaftliches Projekt“ ist. Der Relativismus als Weltanschauung kehrt dieses Verhältnis um: Die Wissenschaft ragt mit ihm auf falsche Weise in die Lebenswelt hinein. Zugleich führt die Einsicht in den Projektcharakter der Wissenschaften im Rahmen des Relativismus nicht zur Festigung der erinnerungsbegabten Vernunft, um der es Metz geht, sondern zur Marginalisierung der Bedeutung der Geschichte für die Gegenwart.
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