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Sozialistische Selbstfindung

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PROBLEME DER ÖSTERREICHISCHEN POLITIK. Band II, Verlag d. Wiener Volksbuchhandlung, Wien 1968. 126 Seiten, S 65.—.

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PROBLEME DER ÖSTERREICHISCHEN POLITIK. Band II, Verlag d. Wiener Volksbuchhandlung, Wien 1968. 126 Seiten, S 65.—.

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In einem zweiten Sammelband legen profilierte Sozialisten zu verschiedenen Themen ihre Ansichten als Beitrag zur Gestaltung der österreichischen Politik nieder. Diesmal ist es Norbert Leser, der über die Selbstfindung Österreichs schreibt, gefolgt von Christian Broda, dessen Aufsatz sich mit der Strafrechtsreform befaßt. Walter Hacker interpretiert die Neutralität im Atomzeitalter, Fritz Klenner erörtert die Probleme des Kammerstaates und Elisabeth Schilder schreibt über Autorität und Familie.

Die Zusammenstellung dieser Aufsätze ist auf den ersten Blick nicht ganz verständlich, da nicht einmal ein Vorwort die Vielseitigkeit der hier angeführten fünf Themen begründet. Nach der Lektüre des Bandes ist man sich jedoch darüber im klaren, daß hier im wesentlichen den in der Opposition befindlichen Sozialisten gedient werden soll. Unter den Autoren liegt jedoch über den Zweck ein verschiedenes Verständnis vor: Christian Broda und Elisabeth Schilder sehen darin eine deutliche Spitze gegen die gegenwärtige Regierung und aktualisieren die genannten Probleme auf diese Weise. Leser, Hacker und Klenner betrachten ihre Aufsätze mehr als einen Beitrag zu einer sozialistischen Selbstfindung in den verschiedensten Bereichen.

Die Frage, ob wir Österreicher schon zu uns selbst gefunden haben, beantwortet auch Norbert Leser nicht, obwohl er einen beachtlichen Beitrag hinsichtlich der Wertung der Aussagen führender Politiker zu Österreich liefert. Interessant ist, daß Leser die innersozäalistischen Schwierigkeiten bei dieser Frage, die durch den Namen Otto Bauer am besten gekennzeichnet sind, fast völlig vernachlässigt. Der umfangreichen Würdigung Karl Renners müßte auch die Kritik dieses bedeutenden Kopfes des österreichischen Sozialismus in der Zwischenkriegszeit gegenüberstehen.

Walter Hackers Beitrag über die Neutralität ist eine sehr komplette Zusammenstellung der historischen Fakten und der Zukunftsaussichten, wobei eine Ergänzung hinsichtlich der Erziehung des österreichischen Staatsbürgers zur Neutralität und die Unterscheidung zwischen Regierungspolitik und persönlicher Einstellung des einzelnen noch nützlich gewesen wäre. Das Kapitel vom Verhältnis EWG—Neutralität ist eindeutig von der üblichen sozialistischen Doktrin getragen.

Klenner beschäftigt sich einmal mehr (wie auch letztens in „Arbeit und Wirtschaft“) mit dem Verbände- wesen, wobei er die Einbindung der wirtschaftspolitischen Fragen in einen quasi-parlamentarischen Vorgang anstrebt. Die von ihm vorgeschlagene Lösung über das Begutachtungsverfahren wird allerdings auch nicht dem Problem zur Gänze gerecht. Interessant ist nur, daß hier ein Sozialist die Rolle des Parlaments reduziert, was gerade in den letzten zwei Jahren von dieser Seite nie getan wurde. Elisabeth Schilder mündet in ihrer Untersuchung über Autorität und Familie auf die von den Sozialisten er

wünschten Abänderungen des Familienrechtes hinaus. Die zeitweise sehr doktrinär gehaltenen Ausführungen münden In einer Kritik an der gegenwärtigen Regierung, die die von Minister Broda begonnenen Reformen auf diesem Gebiet nicht fortsetzt.

Damit ist aber der Hauptautor des Bändchens bereits im Gespräch. Christian Broda vertritt im ersten Teil seines Aufsatzes die These, daß besonderer Wille und besondere Kraft dazu notwendig sind, eine Strafrechtsreform zu erreichen. Die vielfachen Anläufe seit 1861 sind sicher ein beredtes Beispiel dafür. Broda spricht davon, daß „der Strafrechtsreform bei ihrem dritten Anlauf seit 1912 gute Aussichten eröffnet“ werden, „dieses Mal zu ihrem Ziel zu kommen“. Einige Zeilen vorher kann man jedoch lesen: „Im gleichen Maß, in dem die Sozialdemokraten in der ersten Republik an politischem Einfluß verloren haben, entschwanden auch der Impuls und der Mut zur Strafrechtsreform “ Wer die weiteren Aussagen Brodas in dieser Richtung vernommen hat, wird bereits jetzt feststellen können, daß der frühere Justizminister der Alleinregierung der ÖVP die Kraft absprechen wird,

wenn das Parlament im Herbst an diese Arbeit geht. Ob da nicht die Motivation des politischen Einflusses herhalten muß, um diese verzögernde Rolle zu motivieren. Dabei gibt Broda zu, daß auch die ÖVP der Meinung ist, daß eine Strafrechtsreform nicht mit 51:49 Prozent beschlossen werden kann. Broda formuliert im zweiten Teil die für ihn entscheidenden Inhalte einer Strafrechtsreform. Hier sind keine neuen Fakten feststellbar, wobei die Auseinandersetzung mit der Kirche sehr vorsichtig ist und meistens darin besteht, daß Abgeordnete und Fachleute der ÖVP gegen die Kirche zitiert werden. Vielleicht fehlt einer Verabschiedung der Strafrechtsreform wirklich noch eine eingehende Konfrontation der Ansichten der katholischen Kirche mit denen der SPÖ. Vorliegender Beitrag dient eher der Geschichte als der Klärung der genannten Probleme zur Strafrechtsreform.

Wenn der Zweck des Bändchens noch einem Vorwort zu entnehmen wäre, und die Aufsätze einen inhaltlichen Zusammenhang hätten, könnte man das Buch als einen interessanten Beitrag zur politischen Diskussion in Österreich werten.

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