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Slawische Geisteswelt

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Die Herausgeber haben die so erfreulich begonnene Arbeit mit dem vorliegenden Band fortgesetzt. Nach dem eigentlich politischen Leben, dem der vorausgehende Band gewidmet war (siehe „Furche“ vom 31. Jänner 1959), soll nun hier das religiöse und moralische Denken gehört werden. Dabei haben sich die Herausgeber, laut Einleitung, die Aufklärung eines besonderen Tatbestandes zur Aufgabe gemacht. „Hatte man… bisher vorwiegend nur gefragt, was jedem Volke einen eigenen Weg zu zeigen und ein Loskommen von der historisch und organisch gewachsenen Gemeinschaft zu rechtfertigen vermochte", so wollen sie das gemeinsame großösterreichische Erbe beleuchten und zeigen, wieviel „gemeinsame Merkmale und verbindende Momente" bei den behandelnden Völkern festzustellen sind.

Die Gelegenheit für eine solche Untersuchung ist gewiß günstig. Der Erforschung dieses gemeinsamen Erbes standen bisher zwei Hindernisse entgegen. Einerseits wurde Rücksicht auf einen revolutionären Chauvinismus genommen, der die Entösterreicherung (odrakoušteni) zu seinem Programm gemacht hatte; er konnte der Versuchung verfallen, jedes festgestellte großösterreichische Erbe prompt abzuschaffen. Heute aber unterliegen all diese Völker ohnedies einer „Strukturwandlung", bei der die Länder von der Totalität umgepflügt werden wie ein Saatfeld vom

Keiler: gemeinsame oder nationale Tradition wird da nimmer unterschieden. Anderseits wurde dieser Chauvinismus ermuntert durch eine Perspektive, welche in jedem gemeinsamen Gut ein Geschenk Wiener Kulturträger an Eingeborene zu sehen geneigt war. Dieser Denkart entziehen sich die Herausgeber mit Erfolg und sie erforschen den slawischen Beitrag mit echtem Interesse und ohne abendländische Redensarten. Mit anderen Worten: das Buch ist auch für den brauchbar, den. das Thema zunächst angeht — den slawischen Leser.

Die neuesten Arbeiten der betreffenden Völker sind sosehr berücksichtigt, daß die ersten zwei Beiträge direkt einer heutigen Mode entsprechen: dem Interesse der titoslawischen Kulturpolitik für die mittelalterliche Häresie der Bogomilen. Es folgen interessante Proben aus Schriften der verschiedensten Zeiten und Richtungen, in schönes Deutsch übertragen. Sollen wir auf einzelnes hinweisen? — Das polnische Denken des freien und dann des zerrissenen Landes wird auch jenen allzuvielen Lesern nähergebracht, die darin fast ganz unwissend sind. Die großen Slawisten der Monarchie sind würdig vertreten, und ein Beitrag von Max Dvorak erinnert an einen slawischen Beitrag zur Kultur des heutigen Oesterreich. (Zum Kommentar der Herausgeber eine Frage! Großösterreichische Einstellung in Ehren: aber die Bilder von Raudnitz eine „österreichische Ahnengalerie“ zu nennen, scheint mir doch eines erklärenden Wortes bedürftig.) Die Auswahl der Abschnitte ist von einer fast atemberaubenden Objektivität: ausgesprochen marxistische Texte finden sich vor, und von Arne N o v ä k ein Ausblick auf Prag, dessen Einseitigkeit den österreichischen Sympathien der Herausgeber stracks widersprechen muß …

Es versteht sich, daß die Grenzen zwischen den Themen der Bände dieser Serie nicht genau zu ziehen sind. So finden wir denn auch hier eminent politische Texte. Da ist etwa die Schilderung der Maifeier von Neruda — am 1. Mai 1890, also am Anfang jener neunziger Jahre, die eine solche Wendung im politischen Denken Böhmens bedeutenl Mit Recht macht der Kommentar darauf aufmerksam, wie weit nach rechts da die Sympathien für den beginnenden Sozialismus reichen: Neruda publiziert seinen Aufsatz in den nationalistischen „Närodni Listy" (von Nazis und von Kommunisten verbotenes Tagblatt). — Noch interessanter sind die Argumente, mit denen am Konzil von Konstanz Pawel Wlodkowic (Paulus Vladimiri) den polnischen Standpunkt gegenüber den Litauerreisen des Deutschen Ordens vertritt. Hier wird die mittelalterliche Berufung des Reichs zum Heidenkrieg ausdrücklich geleugnet!

Was die Politik betrifft — da haben sich die austrophilen Herausgeber mit der Auswahl der letzten zwei Abschnitte ein kleines Kunststück geleistet. Zuerst schreibt K. Havlicek Briefe aus seinem Exil in Brixen; dann J. Fučfk seine „Reportage am Strang geschrieben“. Also gewissermaßen: der oppositionelle Journalist „vor und nach dem Gebrauch“ des Friedens von Saint-Germain… An dem Passus von Fučfk ist übrigens noch etwas bemerkenswert. Da wird jenen Landsleuten gedankt, die keine Kommunisten waren und doch den kommunistischen Häftlingen in Hitlers Kerkern geholfen haben. „Ihnen gebührt die Bezeichnung Held“, meinte damals Fučfk. Seither haben seine Parteigenossen Hitlers Häftlinge Beran, Trochta, usw. wieder in Haft genommen, aber das Wort von Fučfk bleibt stehen: „Ihnen gebührt die Bezeichnung Held.“

Kein Sammelband wird je alle befriedigen, und nur zögernd machen wir diesbezügliche Bemerkungen: Das Zitat aus Masaryk scheint uns recht wenig repräsentativ. Man könnte gewiß etwas mehr Bezeichnendes für die Art finden, wie seine Weltanschauung aus moralisierender Ernsthaftigkeit sich endlich zu dem Begriff des ethisch gebotenen Kampfes gegen - Oesterreich entwickelt. Auch hätte im ersten Teil des vorliegenden Bandes doch wohl der religiöse Konflikt in Böhmen im gegenwärtigen Jahrhundert Platz finden sollen. Erfreulich oder nicht — die Entwicklungen um die „Katholische Moderne" und die Gründung der „Tschechoslowakischen Kirche“ sind geistesgeschichtlich erheblich genug, um auch den österreichischen Leser zu interessieren.

Nun noch zwei kleine Erinnerungen. Zu Anm. 171 wäre zu sagen, daß bei den Geschichtsschreibern der Krone Aragon einiges über die Almogavaren zu erfahren ist. — Es wäre für den Leser u n d für den Verleger von Vorteil, wenn im vorliegenden Band und nicht nur etwa am wegzuwerfenden Umschlag) das Inhaltsverzeichnis des vorhergehenden Bandes Platz gefunden hätte. Denn beide Bände sind eine organische Einheit und verdienen, zusammen besessen zu werden

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