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Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos

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Haben die Geisteswissenschaften ausgedient? Oder haben sie Chancen, gerade heute wieder an Boden zu gewinnen?

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Haben die Geisteswissenschaften ausgedient? Oder haben sie Chancen, gerade heute wieder an Boden zu gewinnen?

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Kommt es, in Sparpaket-Zeiten, zur Demontage der Geisteswissenschaften, weil ihr „Nutzen” im Vergleich zu den Naturwissenschaften der Öffentlichkeit weniger leicht einsichtig gemacht werden kann? Oder blühen sie auf, da der auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende technische Fortschritt ernüchtert (Stichwort: Tschernobyl) betrachtet wird beziehungsweise erkannt wurde, daß nicht die Wirtschaft, der gemeinsame Markt, allein Europas Einheit herstellen kann?

Der „Österreichische Wissenschaftstag 1996”, das nun schon zur Tradition gewordene, alljährlich von der Österreichischen Forschungsgemeinschaft organisierte dreitägige Gelehrtentreffen auf dem Semme-ring, ließ heuer spannende Diskussionen zu diesen Fragen erwarten. Heinrich Neisser, Zweiter Nationalratspräsident und Präsident der Forschungsgemeinschaft, wies in seiner Begrüßung darauf hin, daß die Geisteswissenschaften heute selbst schutzbedürftig geworden seien, nachdem man zur Jahrhundertwende noch gemeint hatte, sich vor ihrer zersetzenden Wirkung schützen zu müssen.

„Die ,Krise der Moderne' und die Renaissance der Geisteswissenschaften” stand über dem gut geplanten Programm, das -einschließlich der Referenten - nahezu 100 Teilnehmer anlockte. Fazit am Ende, nach neun Vorträgen und eben-sovielen Diskussionen (dabei waren zwei Referenten ersatzlos ausgefallen): Es wurden vorwiegend Referate über Erkenntnisse eines bestimmten Faches abgeliefert, das Gesamtthema geriet oft aus den Augen. Und ein Vortragender fand nichts dabei, von seinem im Programm angekündigten und in seinem vorab gelieferten „abstract” angeschnittenen Thema total abzuweichen.

Zunächst lieferte der Magde- burger Philosoph Wolfgang AVelsch einen sehr brauchbaren Einstieg in das Generalthema. Eine scharfe Abgrenzung der Geisteswissenschaften (unter die in erster Linie die Philosophie, Geschichte- und Sprachwissenschaften fallen) zu den Sozial- und Kulturwissenschaften, aber auch zu den Naturwissenschaften, lehnt Welsch ab. Auch wenn diese Trennung weithin üblich sei, so gebe es doch eine prominente Ausnahme, die renommierte amerikanische Stanford-Universität, die als „School of Tlumanitiesand Sciences” alle Fächer unter einem Dach vereinigt. Welsch plädierte dafür, nicht nur über Disziplinen, sondern auch über Kulturen hinaus zu denken und der zunehmenden Vernetzung und Verflechtung der Welt Rechnung zu tragen.

Im Sinne von Pluralität tritt er für einen „aufgeklärten Relativismus”, doch keineswegs für ein „Anything goes” (Alles geht) ein. AVelsch schwebt für die zukünftige Universität eine Art Zweigleisigkeit vor: zuerst ein fachbezogenes Grundstudium, anschließend ein interdisziplinäres Aufbaustudium. Darin erblickt er

„die besondere Chance des europäischen akademischen Systems”.

Wenn im weiteren Verlauf der Tagung die Geisteswissenschaften einmal als „Entspannungswissen” (beim Wiener Kunsthistoriker Rurghart Schmidt) und als „ZwischenWissenschaften”, die auf Partnerschaften angelegt sind (beim Wiener Germanisten Werner Welzig), zur Sprache kamen, so klang an, daß es hier nicht „um das Zählen von Schuppen auf Schmetterlingsflügeln” geht, aber sehr wohl um das methodische Hinterfragen und Rewerten von Phänomenen aus einer gewissen Distanz (Burghardt) und ohne Phraseologie (Welzig).

Was die Geisteswissenschaften zur Deutung von Epochen leisten können, demonstrierten der Wiener Historiker Herwig Wolfram und die Wiener Kunsthistorikerin Elisabeth von Samsonow. Wolfram widersprach der These Jacob Burckhardts, die Entwicklung des Individuums sei erst eine Leistung der Benaissance, indem er Hinweise auf die Bedeutung der einzelnen Person im Mittelalter ins Treffen führte. Samsonow erklärte die großen künstlerischen Projekte der Barockzeit mit den drei Hauptbegriffen Traum, Utopie und Reise.

Der Konstanzer Erziehungswissenschaftler Wolfgang Rrezinka mahnte neben AA'issens-vermittlung Wertevermittlung in der Rildung ein und maß dabei den Geisteswissenschaften einen wichtigen Rang zu. Denn an den Schulen seien noch immer die kulturkundlichen Fächer dominant. Brezinka sieht eine „normative Orien-Pbhat tierungskrise” und zitierte Friedrich Nietzsche: Es bestehe die Gefahr einer „Weltvernichtung durch Erkenntnis”, denn es habe „sich als unmöglich erwiesen, eine Kultur auf das AVissen zu bauen”. Brezinka tritt für klare Erziehungsziele und Erziehungsideale ein, die Bildung der Lehrer für öffentliche Schulen werde umso wichtiger, je individualistischer eine Gesellschaft sei.

Unter Berufung auf Erkenntnisse der Psychotherapie und der Soziolo-' gie ortet Brezinka eine bedeutende Orientierungslosigkeit der Jugend sowie einen drohenden Zerfall der Gesellschaft. Sem Aortrag fand heftigen AA'iderspruch, aber auch Zustimmung: Er habe die Probleme aufgezeigt, man müsse eher von einem Notstand als einer Benaissance der Geisteswissenschaften reden. Diese sollten nicht nur kompensieren, sondern auch orientieren.

Abschließend referierte der Salzburger Philosoph Heinrich Schmidinger über das Heidegger-AVort „Nur noch ein Gott kann uns retten”. Er sprach der Philosophie die (vor allem im deutschen Idealismus und im Marxismus) beanspruchte Kompetenz ab, selbst umfassende Heilslehren (Soteriologien) zu entwickeln. Dafür sei die Beligion zuständig. Auch religiöses Wissen lasse sich argumentieren, es gehe aber dabei um eine „ersprungene AA'ahrheit” (Mythos), während die Philosophie auf Objektivität beruhe (Logos).

Namens der Forschungsgemeinschaft verabschiedete der Chemiker Kurt Komarek die Geisteswissenschaftler mit dem Trost, auch die Naturwissenschaften (mit denen sich der AVissenschaftstag 1997 befassen wird) seien keineswegs so hundertprozentig exakt, wie man von außen annehme.

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