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Gelenktes Denken

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Bei genauerem Studium der sowjetrussischen Presse, sowohl der großen, offiziellen Blätter der Union und der Partei, als auch der Tochterpublikationen in den einzelnen Ländern und der Zeitungen für bestimmte Leserkreise, wie Jugendorganisationen, Belegschaften großer Werke, Landbevölkerung, Fachgenossenschaften usw., stellen wir eine für uns ungewöhnlich niedrige Anzahl von Grundthemen fest, die in den Spalten ihren Niederschlag finden. Es dominiert die von den Lehren der großen marxistischen Denker und Revolutionäre ausgehende Abhandlung programmatischen Charakters, die erst in neuerer Zeit um die Anprangerung des „Negativen” der westeuropäischen und amerikanischen Kultursphäre notgedrungen erweitert worden ist, es folgt in ähnlich großer Aufmachung die Kritik, besonders die sogenannte „Selbstkritik”, der korporativen und persönlichen Haltung gegenüber Programm und Staat, die praktisch durch eine Arbeits- und Leistungskritik an kulturellen und politischen Organisationen, Industriewerken, landwirtschaftlichen und handwerklichen Arbeitsgemeinschaften, Schulen und Forschungsinstituten sowie an Persönlichkeiten des öffentlichen und kulturellen Lebens zum Ausdruck kommt. Und schließlich erscheinen die inländischen und spärliche, aber sorgsam ausgewählte ausländische Nachrichten in durchaus kritischpolitischem Kleide sowie eine meist harmlose belletristische Literatur, deren begabteste und selbst prominenteste Vertreter aus Gründen der Zweckmäßigkeit auch einen „selbstkritischen” Standpunkt einnehmen.

Doch nicht bloß im gedruckten Worte sehen wir diese eindeutige Beschränkung auf wenige Grundmotive, sondern auch im gesprochenen, beispielsweise im Radio, das — abgesehen von den musikalischen, volksmusikalischen und dramatischen Darbietungen — kaum anders als ein Spiegelbild der Presse zu bezeichnen ist und dessen konzentrierte Sendungen für das Ausland noch mehr offizielles Gepräge tragen.

Während aber Presse und Radio vornehmlich für den erwachsenen Konsumenten geistiger Güter gedacht sind, findet man dieselbe Grundhaltung bereits in den Lehrplänen und Schulbüchern schon der untersten Stufen vor. Äußerungen von Absolventen höherer und hoher Lehranstalten, von Intelligenzlern des gehobenen Industrie- und Verwaltungsdienstes lassen erkennen, daß sie von Goethe, Schiller, Kant, Voltaire, Shakespeare kaum mehr als den Namen wissen. So ist es erklärlich, daß sich auch jede Diskussion im Dienst und offiziellen gesellschaftlichen Leben gar nicht anders darstellen kann als eine Variation der genannten Grundthemen. Selbst wenn die Beteiligten es anders wollten, sie könnten es wohl nicht.

Es soll uns die Annahme vollkommen fernliegen, daß etwa lediglich die dauernde Behandlung eines und desselben Themas derartige Erfolge in der Ausrichtung der geistigen Tätigkeit der Umgebung zeitigen könne, auch wenn die Behandlung in noch so schöner, klassischer Form sich präsentieren mag oder gespickt wäre mit psychologischen Tricks; nein, andere Reaktionen, Parallelen, abwegige Denkrichtungen, ja Rückschläge, wenn wir es so bezeichnen wollen, müßten sich mit der Zeit unfehlbar einstellen, da dem Menschen ja noch a n- dere Denkbahnen außer der erwünschten offen stehen, in die sich sein Denkstrom, absichtlich oder unabsichtlich, ergießen kann. Es wäre dies eine massenpsychologisch grobe Methode. Aber ein vorsichtiges Vermauern oder Entfernen abseitiger Denkbahnen zu gegebener Zeit wird um so wirkungsvoller sein, je behutsamer eine solche Demontage vor sich geht. Diese Unbenützbarmachung aller Nebengeleise geschieht psychologisch wohl am besten durch ein Verkümmernlassen derselben und, falls noch keine eindeutigen Nebengeleise vorhanden sind — wie bei jugendlichen Menschen —, dadurch, daß man eben keine Seitenwege öffnet. Deshalb hat auch in den der Sowjetunion politisch und geistig verbundenen Staaten unlängst erst eine Sichtung des literarischen Marktes stattgefunden, eine umfangreiche Aussonderung nach Autor, Titel, Erscheinungsjahr und -land, die sich noch dadurch auszeichnet, daß auch für die Zukunft bereits fest- umrissene Pläne der Neuerscheinungen aufgestellt worden sind, deren Präzision wohl über eine Festlegung allgemein gefaßter Richtlinien weit hinausgeht. Denn den lernenden, künftigen Geschlechtern sollen keinerlei seitliche Denkbahnen erschlossen werden, die zu nicht zweckmäßigen Resultaten führen könnten.

Das Versetzen des Individuums in die Situation der Unmöglichkeit einer Aneignung psychologischer Apperzeptionsstützen, auf deren Fundament allein logisch selb- ständige Schlüsse möglich sind, scheint als oberster Grundsatz bei der Lenkung des Denkens Anwendung zu finden. Es ist dies auch die weitaus subtilere Methode, die kaum je versagen dürfte, und darum hält sie sich, wo sie einmal eingeführt ist.

Man wird sich aber veiter f’gen, was denn mit der Denkkraft oder dem Denkvermögen eines Individuums, einer gesellschaftlichen Schicht oder eines Volkes geschieh , bei denen dieses Denkvermögen bereits eine gewisse, sich vererbende Größe und Stärke erreicht hat, nachdem es nun in ganz bestimmte Bahnen gelenkt wurde, welche sich aber als zu eng erweisen sollten? Muß da die überschüssige Kraft nicht die Bahnen sprengen? Anders gesagt: Läßt sich denn die Denkkraft eines Menschen oder einer Gesellschaft einfach einengen, denn einer Einengung kommt ja dieser Vorgang schließlich gleich? Es müssen „Ventil e” geschaffen werden, ohne Zweifel. Wir finden sie in der garantierten freien Meinungsäußerung, in Lehrgängen und Tagungen mit anschließenden Debatten, in planmäßigen und gelegentlichen Arbeiterversammlungen der industriellen Betriebe, nicht zuletzt wieder in den Spalten der Presse, im „Kritiküben”. Es ist falsch, wenn man annimmt, daß derlei Äußerungen, die auch einmal von einem gewissen gesellschaftlichen Unmut getragen sein können, denn doch ein Einbiegen in unzulässige Denkbahnen bedeuteten und somit den ganzen Erfolg in Frage stellen könnten. Denn mag diese Gefahr im Anfangsstadium des Lenkens eines Denkstromes auch vorhanden sein und mit anderen, spezielleren Mitteln — etwa Scheinprozessen usw. — beseitigt werden müssen: mit der Zeit wird diese Gefahr ebenfalls immer mehr ausgeschaltet. da sich der Überschuß an gedanklicher Tätigkeit in der bereits gelenkten Richtung auswirkt, beziehungsweise verpufft. Darum ist so vielen Debatten in der Praxis auch nur bescheidener, wenn nicht gar bloß rhetorischer Wert beizumessen, denn sie vermögen zuweilen zwar noch lokale Übelstände, mit Verfehlungen belastete Personen usw. zu beseitigen und somit nur wieder zweckmäßige Verbesserungen zu bringen, keinesfalls aber eine etwaige Umformung der großen, richtunggebenden Kräfte mehr zu verursachen.

Man wird, nach dem Gesagten, die Behauptung, daß eine systematische Lenkung des Denkens der Massen stattfindet, nicht mehr von der Hand weisen können. Ünd muß schon jede schematische „Säuberung” literarischen Schaffens in allen geistig regsamen und verantwortungsbewußten Kreisen tiefes Bedenken hinsichtlich des absoluten wie relativen Wertes der „zugelassenen” publizistischen Erzeugnisse auslösen, um wieviel mehr muß ein Vorgehen, wie es geschildert wurde und in Umfang und Tiefe zweifellos ohne Beispiel in der Geschichte dasteht, die Ablehnung der gesamten Kulturwelt hervorrufen? Müßten sich Begründer und Anwender derartiger Lenkungsmethoden geistiger Güter, ja noch im Entstehen begriffener geistiger Arbeitsergebnisse nicht der Verantwortung bewußt werden, die sie auf sich laden, wenn sie einem Denkvolumen, das sich in natürlicher Kulturevolution stets weiterentwickeln will, die meisten Ausgänge unterbinden, um dagegen freilich einige wenige, aber sichere Denkbahnen einzutauschen? Gleich einem Gärtner stehen sie vor jungen und älteren Bäumen, um die seitlichen Äste zu beschneiden, damit der frische Saft nur nach oben schieße, und zwar unverdünnt und mit um so größerer Kraft. Der gestutzte Baum wächst rasch empor, man sieht an ihm auch manch schillernde Blüte im frühen Sonnenstrahl unschuldige Kinder herbeilocken. Ob der Wert der wenigen Früchte einen aber grundsätzlich zufriedenstellt, ist freilich eine ganz andere Frage.

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